Der Spuk der alten Dame

Herbert Büttiker, Der Landbote (25.09.2012)

Jenufa, 23.09.2012, Zürich

Ein starkes Stück und ein beeindruckendes En­sem­ble machten den Auftakt zur neuen Zürcher Opernepoche zu einem umjubelten Ereignis. Die Botschaft von Leoš Janáceks «Jenufa» geht in der Inszenierung freilich eher unter.

Vielleicht hat niemand eine zartere, innigere Musik gefunden, um die Gefühle einer jungen Mutter zu beschreiben, als Leoš Janácˇek im zweiten Akt seiner Oper «Jenüfa», die 1904 in Brünn zur Uraufführung kam und dem Komponisten mit der ersten Aufführung in Prag den internationalen Durchbruch bescherte. Ein hohes und langsam absinkendes Tremolo überglänzt die Szene, wenn im oberen Zimmer eines mehrstöckigen Hauses Jenufa ihr Baby in die Wiege legt. Die Klarinette singt süss, ihre Stiefmutter, die Küsterin, mischt sich ein, weich, aber vorwurfsvoll – Janáceks wunderbarer Sprachtonfall: «Immerfort hätschelst du das Kind.»

Jenufa greift die Melodie auf: eine Liebkosung. Es ist einer der Höhepunkte für zwei Protagonistinnen, die Wärme und Dramatik der Stimme grossartig im Griff haben und ganz eins sind mit ihrer Figur: Kristine Opolais (Jenufa) und Michaela Martens (Küsterin) – beide ganz wahr für den Moment der Verzückung. Dieser steht wie eine leise Fermate in einem Drama, in dem ein Kind zur Unzeit zur Welt kommt, eine Schwangerschaft verborgen gehalten werden soll, das Wochenbett im abgeschotteten Zimmer steht und das Kind schliesslich überhaupt verschwinden muss.

Explosives Potenzial

War­um nur? Die Frage beantwortet sich mit dem Hinweis auf den Ort der Handlung, das bäuerliche Milieu Mährens, die enge Moral, die verhärmten Menschen. Hinzu kommt, dass die Handlung in engsten Sippenverhältnissen spielt: unter Halbbrüdern, dem Mädchenschwarm Steva und dem benachteiligten Laca, der Cousine Jenuºfa, die vom ersten geschwängert und vom anderen bedrängt und verletzt wird. Jenuºfas Stiefmutter ist die Küsterin des Ortes, also schon von Amtes wegen Hüterin der Moral. Am Rand steht die alte Burya, ihrerseits Stiefmutter der Küsterin und Grossmutter der drei jungen Leute, für die die Inszenierung eine besondere Rolle vorsieht. Aus der Familienkonstellation mit explosivem Potenzial und den bedrückenden Verhältnissen des Dorfes hat Gabriela Preissova ihr naturalistisch durchaus reisserisches Drama gestrickt, das Janácek für seine Oper benutzte.

An ein mährisches Dorf um 1900, die stattliche Mühle der Buryas lässt die Zürcher Inszenierung nicht denken. Dmitri Tcherniakov, der Regisseur und Bühnenbildner hat eine schon fast mondäne Villa auf die Bühne stellen lassen. Einblick hat man in den gestylten Salon und diverse Zimmer auf drei Stockwerken. Die Bühnentechnik vollbringt eine Meisterleistung, wenn sie den Blick wechselnd auf ein Stockwerk fokussiert oder das Geschehen auf zwei Ebenen gleichzeitig verfolgen lässt. Das je nachdem modische oder auch nur alltägliche Outfit (Kostüme: Elena Zaytseva) soll deutlich machen: Die Geschichte kann sich so auch heute in Zürich abspielen (und gemeint ist dabei nicht unter Einwanderern aus fernen türkischen Provinzen).

Menschen von heute

Ob sie das wirklich kann, bleibt aber die Frage. Zweifellos bewegen sich Menschen von heute auf der Bühne. Wie zum Beispiel Stevas Rückkehr von der Musterung in eine ausgeflippte Party ausartet, ist in der Detailfülle virtuoses Regiehandwerk. Grossartig, wie Jenuºfa hier hin und her gerissen ist und nochmals den sorglosen Teenager zu spielen versucht, oder wie Steva (Pavol Breslik mit schlankem Tenor) seine Unsicherheit mit Starallüren überspielt. Tcherniakov ist ein wacher Psychologe, und darstellerisch ausgefeilt zeigt sein En­sem­ble auf der Bühne wirkliches Leben.

Aber in diesem Leben scheint es tatsächlich keinen Platz für das krude Geschehen zu haben, das im archaisch provinziellen Milieu seine Logik hat. Statt zum barbarischen Kindsmord zu führen, müsste hier zur Verzweiflung ja wohl die Abtreibungsdiskussion gehören. So bleibt Tcherniakov nur, nach dem Kostüm auch die Erzählung zu wechseln und ihr eine Wende zu geben, die das Barbarische ausblendet. Die Küsterin trägt das Kind nicht hinaus in die eisige Winternacht, sie verbirgt es in ihrem Zimmer, und es ist dann – so muss man, was sich im dritten Stock des Hauses tut, interpretieren – die senile und verschrobene alte Burya, die den Kinderwagen dort ans offene Fenster stellt.

Mord oder Unfall?

Der Tod des Kindes kann da mehr oder weniger als Unfall durchgehen, und die Verwandlung ins Monströse bleibt dieser Küsterin erspart. Mit vollem Mezzosopran, grosser Kantabilität und nur wenig Gift in den Spitzentönen lässt sie Michaela Martens denn auch sehr menschlich erscheinen, eher hilflos als böse, fürsorglich als autoritär, sympathischer als im üblichen Rollenschema. Aber auch stimmiger?

Die grundsätzliche Frage über Grenzen einer interpretierenden Regie wäre ja auch zu stellen. Aber es geht zunächst um dramaturgische Konsequenzen: Das 2. Aktfinale mit Sturmmusik und dem Zusammenbruch der Küsterin, die den Tod durchs Fenster hereinschauen sieht, hängt nun sehr in der Luft. Und angesichts der Unklarheit über die wirklichen Vorgänge zwischen dem zweiten und dritten Akt wird das grosse Thema der Oper zum blossen Spuk. Eigentlich geht es, wie am Schluss immer klarer wird, um Schuld und um Vergebung, schuldig werden aus Liebe, verzeihen können als Liebesfähigkeit, um eine Öffnung zum Menschlichen. Hier aber rückt immer mehr die alte Burya mit sphinxhaftem Lächeln in den Mittelpunkt.

Was bleibt

Dass dabei für Jenufa das Erlebnis der Mutterschaft – die erwähnte «Fermate» – eine Rolle spielt, kann man annehmen. Nicht so jetzt im Opernhaus: Jenüfa schickt am Ende Laca weg – dem Tenor Christof Ventris’, der ihn mit kernig starkem und impulsivem Tenor einfühlsam porträtiert, hätte man einen besseren Abgang gegönnt. Aber der Liebe von Laca und Jenüfa wird ebenso eine Absage erteilt wie der Vergebung. Ihrer Stiefmutter verpasst Jenüfa am Ende eine Ohrfeige, jetzt ist sie die verhärmte Herrin im Haus Burya und die drei Frauen sind, mit neuer Rollenverteilung, wieder unter sich wie zu Beginn.

So sieht es die Regie, die nicht nur das Barbarische in Janácek Tonsprache und Dramatik negiert, sondern noch gründlicher auch den Hymnus am Schluss der Oper. Was bleibt da von Janácek? Man kann sagen, viel, ausser vielleicht Janácek. Es bleibt der spannende Opernabend, aber auch ein grosses Fragezeichen, und natürlich bleibt die Musik selber: Unter Fabio Luisis Leitung bleibt ihr Orchester und Bühne nichts schuldig, alles ist da, alle Schroffheit, alle Zartheit, die fatale Getriebenheit und leuchtende Güte.