Wer jetzt ein Haus baut, baut ein Puppenheim

Eleonore Büning, Frankfurter Allgemeine Zeitung (25.09.2012)

Jenufa, 23.09.2012, Zürich

Doppelhaus-Regie für Janáčeks Opernweiber: Bei seiner „Jenůfa“ in Zürich glänzt das Orchester, bei seiner „Katja Kabanowa“ in Basel die Solisten.

Selbst die teuerste Immobilie ist letzten Endes nur Verpackung. Stimmt was nicht mit den Inhalten, ist es egal, wie viele Fahrstühle oder Swimmingpools das Haus hat. Aus nur zwei Etagen, vier kargen Zimmern besteht es auf der Opernbühne in Basel, darin Katja Kabanowa mit ihrer schrecklichen Familie haust. Außen Rohbau, innen Chemielabor, ist es trotz alledem ein wahres Wundergehäuse. Fährt auf Schienen vor und zurück, rüttelt sich, schüttelt sich. Steht inmitten einer Riesenwasserlache, das soll wohl die Wolga sein. Alle Sängerinnen und Sänger der Basler Produktion müssen also Gummistiefel tragen, wenn sie dieses Haus verlassen wollen, sogar für den wackeren Dirigenten Enrico Delamboye stehen, als er am Ende zum Verbeugen an die Rampe tritt, eigens Stiefel bereit.

Katjas Puppenheim in Basel, errichtet von der Bühnenbildnerin Kathrin Frosch für die erste Operninszenierung des Schauspielregisseurs Armin Petras, kann sich sogar um die eigene Achse drehen. Während der katastrophenauslösenden Sturm-Musik im dritten Akt – „Gewitter“, wie das Schauspiel von Alexander Ostrowkskij, das ihm als Vorlage diente, wollte Leoš Janáček seine „Katja Kabanowa“ ursprünglich nennen – macht es plötzlich Puff, der Blitz schlägt ein, das Labor explodiert, Wasserdampf entweicht, Sturzbäche von oben. So wird aus dem Seelendrama vorübergehend ein großes Hallo für die ganze Familie.

Unter der Seelensteinelast zusammengebrochen

Vornehmer geht es zu im Designereigenheim, worin Janáčeks „Jenůfa“ mit ihrer Müllersfamilie in Zürich untergebracht ist. Drei Etagen, Sitzgarnitur, Eichenparkett. Hier bleibt das Haus unversehrt. Diesmal wird am Ende, als gar nichts mehr zu retten ist, nur sacht die Türe zugemacht, und alle Mannsbilder sind ausgesperrt. Aber auch dieses Luxusbühnenbild birgt geheime Maschinerien, mit denen der Regisseur und Ausstatter Dmitri Tscherniakow allerhand Spuk veranstalten kann.

Jenůfas Zürcher Puppenheim saust wie ein Fahrstuhl geräuschlos am Bühnenportal vorbei, fährt auf und nieder, vom Parterre bis hoch zum Dachfirst. Ab und zu bleibt dieser Jenůfa-Fahrstuhl auf halbem Wege stecken. Dann sehen wir im zweiten Akt nur noch die Füße des armen Mädchens, wie es auf Socken in einem schmalen Streifen Restschlafzimmer hin- und herläuft. Das ist der Beweis, dass Jenůfa keineswegs schläft da oben, eingelullt vom Schlaftrunk, den ihr Mutter Küsterin verabreicht hat, die demnächst fürsorglich das neugeborene Kind aus der Wiege nehmen und umbringen wird. Jenůfa ist vielmehr hellwach.

Sie belauscht, was ihr gutaussehender, hell und klar tönender Geliebter (Pavol Breslik) mit der gestrengen, gellend-essigscharf intonierenden Frau Mutter (Michael Martens) ein Stockwerk tiefer beredet. Und ihren Ruf: „Ein Stein fällt auf mich!“ tut diese sanfte Jenůfa (Kristne Opolais mit kleiner, aber intensiver Stimme) nicht ahnungsvoll zweimal im Schlaf; sie bricht buchstäblich unter der Seelensteinelast zusammen, als sie mit anhört, dass ihr Liebster sich längst eine andere zum Heiraten ausgeguckt hat.

Von Solisten und Orchestern

Es ist sicher Zufall, dass die Saison in Basel und in Zürich diesmal mit den beiden populärsten der vier großen Frauenopern Janáčeks eröffnet worden ist. Kein Zufall ist es, vielmehr eine seit den Erfolgen der britischen Live-Video-Regisseurin Katie Mitchell wie wild um sich greifende Opernmode, dass neuerdings hier wie überall Simultanhandlungen auf zwei oder mehr Ebenen gezeigt werden. Es sieht ja auch tatsächlich ganz großartig extrem und schicksalhaft aus, wie Jenůfa hoch oben in der rechten Ecke, verirrt im Treppenaufgang zum Dachstuhl des Hauses, tobt und sich schier aus dem Fenster stürzen möchte, wenn es nur nicht verschlossen wäre; bis sie, selbst eine proletenhafte Marienfigur im Hausanzug, zusammensackt im Gebet an die heilige Jungfrau.

Genauso ergreifend ist die Szene, in der die Basler Katja plötzlich, nach einer halben Drehung des Hauses, in einem Fensterrahmen erscheint, wie in einem Scherenschnitt, eine Gefangene, entschlossen, dem Gefängnis zu entrinnen. Mary Mills erfüllt ihre Kantilene klar und zielstrebig mit sehnsüchtigem Pathos. Überhaupt wird in Basel vom gesamten Solistenensemble durchweg herausragend gesungen, das Sinfonieorchester Basel hielt brav mit. In Zürich war es eher umgekehrt. Fabio Luisi feuerte die Zürcher Philharmonie zu romantischem Ausdruck und großer Farbigkeit an; die Sängersolisten aber verführte er bis an die Grenze des Geschreis. Diese mehrstöckigen Panorama-Bühnenbilder mit klangreflektierender Rückwand haben nicht nur visuell magische Wirkung. Sie klängen auch dann noch gut, wenn das Sängerpersonal nur dumm herumstünde in der Dekoration, wie eine Sammlung von Musiktruhen – was weder bei Petras noch bei Tscherniakow der Fall ist.

Mit Wehrlosigkeit bewaffnet

Sowohl in der „Katja“- wie in der „Jenůfa“-Regie wurde scharf und genau gefeilt an der Personenführung. Beide, Petras und Tscherniakow, haben eindrucksvoll logisch agierende Charaktere aus dem Fluss der Musik heraus entwickelt. Und beide versuchen, diese schwermütigen altmährischen Dorfgeschichten mit ihrer Gesellschaftskritik und ihren Frauenopfern aus dem neunzehnten Jahrhundert in die helle emanzipierte Gegenwart zu überführen. Und beide Regisseure erzählen ihre Geschichten wie unter Protest, sind beide entschieden nicht einverstanden damit, was Leoš Janáček den Frauen in seinen Opern zumutet.

Eine Figur wie die traumverlorene Katja, deren einzige Waffe gegen die knallhart utilitaristische Kaufmannsgesellschaft die Wehrlosigkeit ist, lässt sich nun mal nicht umlügen in eine Emanze. Janáček bemerkte einmal in einem Brief an seine geliebte Stösslowá (die sein Idol und zugleich das Ideal der von ihm verkomponierten Frauenfiguren war), seine Katja sei „von so sanftem Gemüt, dass eine leichte Brise sie schon davonwehen würde, geschweige denn der Sturm und das Gewitter, das über sie hereinbricht“. Bei Petras verschwindet sie nicht einfach in der Wolga. Sie trinkt Gift. Und erscheint anschließend, verklärt wie eine Madama Butterfly, als Marienfigur auf der Videoleinwand in Großaufnahme.

Drei schwarze Trauerdohlen

Auch Jenůfa ist wehrlos, ausgeliefert und bereit, sich unterzuordnen. Tscherniakow will sie unbedingt anders zeigen. Er stellt also dieses Mädchen hinein in eine Handy-, Label- und Turnschuhjugend von heute, in der eine ungewollte Schwangerschaft einfach kein Grund mehr ist, sich im Elternschlafzimmer zu verstecken. Selbst dem Regisseur kommt das etwas ungereimt vor. Er traut der Küsterin nicht zu, dass sie das Kind ins Eisloch steckt, obgleich es doch das Orchester überdeutlich erzählt.

Er traut auch Jenůfa nicht zu, dass sie der Mutter verzeiht. Und weil er den einzig logischen Grund für den dramaturgischen Knoten dieser Frauenoper nicht akzeptiert, inszeniert er gegen die Musik. Verschenkt, vertan der gigantische, tonmalerische Aufruhr des Orchesters am Ende des zweiten Aufzuges, als der Tod durchs Fenster hereinschaut. Lächerlich das falsche Traumlicht im Dachgeschoss, wo eine zweite, feine Kinderwiege steht, als wäre das Kind nicht getötet, nur ein bisschen verlegt worden. Und zu der seligsten, unemanzipierten, unbegreiflichen Glücksmusik mit Harfenplinkern (ist Glück nicht sowieso unbegreiflich?) muss Jenůfa hier auf ewig in ihrer Einsamkeitshölle sitzen bleiben, mit Mutter und Großmutter: drei schwarze Trauerdohlen. Das haben alle drei nicht verdient.