Manuel Brug, Die Welt (25.09.2012)
Helvetischer Doppelschlag als ästhetisches Beben in Leos’ Gefühlslabor: Die Opernhäuser in Basel und Zürich starten mit Janácek in die neue Saison.
Das Theater Basel scheint prominenten, in der Oper debütierenden Schauspielregisseuren Glück zu bringen. Ob Frank Castorf, Leander Hausmann, Stephan Bachmann, Michael Thalheimer oder Andreas Dresen – sie alle haben hier ihre Anfängerschritte auf der Musikbühne erfolgreich absolviert. Nur die einzige Frau bisher, Barbara Frey, scheiterte, leitet aber trotzdem inzwischen das Schauspielhaus Zürich, wo sie eben verlängert hat. Und jetzt wurde diese positive Novizen-Reihe mit Armin Petras’ erstem Opernversuch begeisternd fortgesetzt.
Wo der vielbeschäftigte Maxim-Gorki-Theaterintendant, Regisseur und Autor oft unfertig bleibt, die Absicht bisweilen das Ergebnis ersetzen muss, da forderte ihn jetzt ein perfektes Stück zu großer, genauer Kunstfertigkeit heraus: die 140 atemlosen Minuten von Leos Janáčeks Ehetragödie "Katja Kabanowa" aus dem Jahr 1921. Diese Ostrowsky-Verknappung erzählt von einer von ihrem Mann vernachlässigten, von ihrer Schwiegermutter bedrängten, schließlich fremdgehenden Frau, die aus Gewissensnot ihre Sünde bekennt und sich in der Wolga ertränkt.
Von Wassermassen umtoste Musikentladungen
Doch wie schon Andrea Breth letztes Jahr in Brüssel, mochte sich Petras nicht damit begnügen, den fugendicht poetischen Realismus dieser immer anrührenden Oper nur schlüssig zu inszenieren. Für ihn bleibt zwar die hermetische Situation der russischen Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und beäugt, genauso wichtig wie die Naturmetapher der durch die ewig im Orchester fließende, von den Holzbläsern im trägen Strom umspielte, schließlich vom einst dem Drama den Titel gebenden "Gewitter" aufgewühlte Wolga. Er vergreift sich auch nicht an der Fabel, überführt sie nur in eine radikal andere, oft künstliche, kühle, doch dadurch umso stärker von der weichen, wehmütigen Musik mit ihrer kleinteiligen Motivik kontrastierten Theaterwirklichkeit. Was wiederum mit dem klangfeinen, ganz auf Lyrik und wenige, von Wassermassen umtoste Dynamikentladungen setzenden Dirigat Enrico Delamboyes beglückend korrespondiert – als bewusstes Spiel der Gegensätze.
Petras und seine Bühnenbildnerin Kathrin Frosch verlegen das in drei Akten und sechs Bildern pausenlos ablaufende Geschehen in ein aus einer Wasserfläche sich erhebendes, stilisiertes Erdbebenlabor, das sich dreht und wackelt, in dem sich funkensprühend und knallend die Maschinen bisweilen gegen die Menschen richten, die sogar mit ihresgleichen experimentieren. In den Anfangs- wie Schlussbildern sind alle Hauptpersonen versammelt. Intimität gibt es nicht, die Kausalkette der Ereignisse entwickelt sich vor aller Augen. In Gummistiefel und im Detail ungemein fantasievolle Kleider zwischen Prada und UdSSR-Schick (Kostüme: Patricia Talacko) gesteckt, werden die Protagonisten auf Distanz gehalten und gleichzeitig in der Werkhalle zur gemeinsamen Arbeit gedrängt. Die Schwiegermutter (wuchtig: Dagmar Peckova) treibt es mit ihrem Liebhaber im Versuchsbecken, auch das junge Paar Warwara und Wanja (die girliefreche Solenn’ Lavanant Linke und Norman Reinhardt mit hormonglühendem Tenor) lässt nichts anbrennen.
Beischlaf in der Sommernacht
Alle gehen sie ihren Trieben nach. Nur die verzweifelt liebessehnsüchtige Katja der hinreißend sopranstarken Sunyoung Seo kann da nicht einfach Mittun, bleibt auch nach dem sommernächtlichen Beischlaf mit dem schwächlichen Dikoj (Andrew Murphy) als Außenseiterin ausgegrenzt, auf der Suche nach Halt, den sie nirgends findet. Petras macht das bildstark deutlich, wenn sie im großen Frauengespräch mit Warwara nur schemenhaft hinter einer Plastikfolie und als Videogroßaufnahme zu sehen ist. Als Chronistin ihres sich ankündigenden Todes sitzt sie schließlich auf dem ebenfalls mit Plastikfolie umwickelten Koffer ihres Mannes ganz vorn an der Rampe. Da bleibt ihr dann nur noch der Selbstmord – mit Gift aus dem Labor, statt mit Wolgawasser.
In Basel gehen Petras und Delamboye lakonisch vor, modern, antirealistisch und wecken trotzdem zarte wie starke Empathie. Am Zürcher Opernhaus, wo Andreas Homoki als Pereira-Nachfolger seine Intendanz mit der eigentlich immer funktionierenden "Jenufa" wenig spektakulär und mutig ebenfalls mit Janácek startet, enttäuscht hingegen der längst hochgehandelte russische Regisseur Dmitri Tcherniakov. Er will ähnliches wie Petras, bleibt aber oft grob und unscharf, weil er sich in seiner superaktuellen Hyperrealismus-Falle verrennt, die zudem am Ende das Stück verbiegt und verunklart. So landet er eher bei den grellbilligen Dokusoaps von RTL II als bei einer forciert zeitgenössischen Opernwirklichkeit.
Der neue Zürcher Generalmusikdirektor verärgert
Mehr aber noch ärgert der neue Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi, der seine erste Vorstellung dort überhaupt sowie seinen ersten Janacék zu grob und für das kleine Haus viel zu laut dirigiert, dann wieder italianisiert und keinerlei übergreifendes Klangkonzept zu haben scheint. Die Sänger müssen dauerforcieren, was keinem guttut. Aber nach der Hälfte der Aufführungen gibt Luisi ja sowieso den Stab bereits weiter.
Schon in der Stille vor dem ersten Tonschuss des klappernden Mühlrads das in Tcherniakovs eigenem Bühnenbild natürlich keine Entsprechung findet, sieht man: Hier bekriegen sich auf allen drei, erst nach und nach enthüllten Ebenen ihres Erbsgrün gestrichenen, aseptischen Big-Brother-Hauses, in dem sie als neureiches Prekariat residieren, drei Frauen nicht nur mit Blicken. Oben harrt die verhärmte Küsterin (an Mezzogrenzen stoßend: Michaela Martens), auf der Treppe die temperamentvolle Ziehtochter Jenufa (mit stählernem Sopran und Totalidentifikation: Kristine Opolais) und unten, als Edelschlampe im Leopardenmorgenrock, die Großmutter Burja (natürlich neuerlich eine Glanzpartie für Hanna Schwarz).
Hier explodieren die Emotionen
Tcherniakov mag keine mährische Dorftragödie. Zwar singt die Musik deren Melodien, aber zu sehen ist ortlose, auch herzlose Gegenwart, grell zugespitzt mit gekonnter Personenregie und explodierenden Emotionen, aber deshalb noch lange nicht richtig. Dislozierte Diven verkümmern zu desperaten Opernhausfrauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, die um die Gunst der tenorsingenden Halbbrüder Laca (laut: Christopher Ventris) und Steva (schön laut: Pavol Breslik) rangeln und um ihre Vormachtstellung im Horrorhaushalt. Am Ende triumphiert hier die sich emanzipierende Jenufa, die ihrer Mutter das Sektglas entwindet und sich selbst zuprostet. Ihren Bräutigam Laca hat sie längst ausgesperrt, und die Küsterin ist als vermeintliche Kindsmörderin kaltgestellt, obwohl sie diesmal nur Jenufas unehelichen Sohn von Steva auf dem Dachboden versteckt hatte. Dessen Exitus hat freilich die Burja verursacht, die jetzt als eleganter Todesengel auf dem Sofa triumphiert.
Janácek als Zimmerschlacht. Ein bisschen zu klein gedacht. Das Werk hat mehr Dimensionen. In Basel fand Kunst statt, in Zürich diesmal also nur Kunsthandwerk.