Von Schande und Kindsmord

Jörn Florian Fuchs, Deutschlandfunk (24.09.2012)

Jenufa, 23.09.2012, Zürich

Leos Janaceks "Jenufa" an der Oper Zürich

Unter neuer Leitung von Andreas Homoki begann nun die neue Spielzeit an der Oper Zürich. Zum Auftakt gibt es Leoš Janáčeks "Jenufa". Das Publikum zeigte sich begeistert.

Eigentlich funktioniert das Stück fast von alleine. Man muss gar nicht so viel herumdeuten und neue Ebenen entdecken oder implementieren. Es reicht, die Personen präzise zu führen und Janáčeks eigenwilliges Klanggeflecht aus Volksliedton und kunstvoll gestalteten Harmonien ernst zu nehmen. Ob man das Ganze in guter - oder vielmehr schlechter - alter Mährenzeit spielen lässt oder verheutigt: halbwegs begabte Regisseure bringen die grausige Geschichte um Kindsmord, den Zwist der Halbbrüder Števa und Laca und die diversen weiteren Konflikte meist gut über die Rampe.



Dmitri Tcherniakov gilt momentan ja als Wundermann der Opernregie und somit erwartet man von ihm natürlich etwas ganz besonderes. Tatsächlich ist seine Jenufa-Deutung in Zürich ein Wurf, gerade weil er nicht viel Neues erzählt. Entscheidend ist das Wie. Alles spielt hier und jetzt. Bestechend ist die Bühne, gleich drei Räume sind übereinander geschichtet und bewegen sich, je nach Handlungsort, sanft nach oben oder unten.

Unten sehen wir ein modern dekoriertes Wohnzimmer, in der Mitte befindet sich ein eher ungemütliches Schlafzimmer, ganz oben gibt es eine Dachkammer. Hier stirbt das uneheliche Kind von Števa und Jenufa durch einen Fenstersturz. Jenufas Ziehmutter - die Küsterin - hat diese Tat vollbracht, um ihr Ziehkind von diesem 'Schandfleck' zu befreien. In gewisser Weise mit im Boot bei dem unheilvollen Unternehmen ist auch Jenufas Großmutter, die alte Buryja. Sie sieht die leere Wiege, tut aber nichts. Währendessen gehen zwei Etagen tiefer die emotionalen und realen Kämpfe weiter, Števa taucht mit seiner aggressiv blonden neuen Flamme auf, Laca versucht noch immer, die von ihm im Zorn mit einem Messer verunstaltete Jenufa zu umwerben. Immer enger ziehen sich die Schlingen um die Protagonisten. Nachdem die Küsterin zugegeben hat, Schuld am Tod des Kinds zu sein, gibt es bei Janáček ein reichlich plattes frohes Ende. Jenufa und Laca gehen in eine gemeinsame Zukunft. Doch Tcherniakov setzt an diese Stelle etwas viel Plausibleres. 



Statt ihrer Ziehmutter zu verzeihen, würgt Jenufa die Küsterin, wirft Laca hinaus und aus dem geknickten Muttchen wird plötzlich eine emanzipierte Frau. Sie schert sich fortan wohl weder um Männer noch um ihre Familie.

Schlicht phänomenal, wie die Regie auf diesen Schlussmoment hinsteuert, wie jedes kleinste Detail exakt festgelegt und in einen größeren Kontext eingebettet wird, wie sich Licht und Temperatur in den verschiedenen Räumen stetig verändern. Janáček hat in Tcherniakov seinen Meister gefunden.



Auch der neue Generalmusikdirektor Fabio Luisi macht am Pult des Opernorchesters (das sich neuerdings Philharmonia Zürich nennt) seine Sache gut. Zwar vermisst man zuweilen ein paar Farben, mehrfach klingen Übergänge zu schwammig, das Gesamtergebnis ist dennoch recht stimmig. Kristine Opolais singt und spielt die Titelpartie zum Niederknien, Michaela Martens bietet vorwiegend schroffe, aber intensive Küsterinnen-Töne. Etwas enttäuschend der Števa von Pavol Breslik, dagegen überzeugt Christopher Ventris als Laca, mit hellen, laut klagenden Melismen.



Ein starker Auftakt für Andreas Homokis gerade beginnende Intendanz in Zürich. Das Publikum reagierte begeistert, Buhs blieben aus.