Alexander Dick, Badische Zeitung (25.09.2012)
Die Zürcher Oper beginnt eine neue Ära mit Dmitri Tcherniakovs Version von Janáceks "Jenufa".
Das ist das Spannende am Theater. Manchmal scheint ein erster Blick auf die Szenerie zu genügen, und man glaubt zu wissen, was einen erwartet. Und manchmal kann man sich so darin täuschen… Es ist ein giftgrüner Wohnraum mit nobler Couchecke und Holztreppe nach oben, den Dmitri Tcherniakov auf die Bühne der Zürcher Oper gestellt hat, Ausdruck einer kühlen, aber auch irgendwie nichtssagenden Postmoderne. Eine allzu glatte, nichtssagende Ästhetik, könnte man denken. Und das zum Saisonstart?
Und es ist nicht irgendein Auftakt. Es ist der Beginn einer neuen Intendanz. Den hat Andreas Homoki, bislang Chef der Komischen Oper Berlin, für die Nobelspielstätte in der Finanzmetropole an der Limmat sicher mit Bedacht gewählt: ein Signal für den neuen Kurs in der Nachfolge des beim Publikum so erfolgreichen Alexander Pereira. Ein deutliches, aber auch eines, das nicht verschrecken soll. Geht das – mit dieser "Jenufa" von Leos Janácek? Geht das – mit diesem Regisseur und Bühnenbildner, der sich mit seinen eigenwilligen Übersetzungen klassischer Stoffe in die Gegenwart sich in keine Schublade einordnen lässt? Auch nicht die des Regietheaters.
Und wie es geht. Denn der russische Regisseur zeigt die Tschechow’schen Dimensionen in dieser Familientragödie um drei Generationen unter einem Dach. Und die Abwesenheit von Liebe. Unverstellt, wie man es selten gesehen hat. Und da spielt eben jenes Bühnenbild eine wichtige Rolle. Zu den ersten unruhigen Takten von Janáceks Mühlenrad-Musik erfährt man dank Hubtechnik, dass es einen Raum über dem Raum gibt – es wird das Zimmer sein, in dem die Küsterin später ihre schwangere Ziehtochter vor der Gesellschaft versteckt. Die vergiftete Atmosphäre, die demonstrierte Beziehungslosigkeit zwischen den drei zentralen Frauenfiguren korrespondiert eng mit der Musik. Und das wird sich die drei Akte über verstärken. So eng an der Musik inszeniert selten ein Regisseur wie Tcherniakov, so deutlich, so psychologisierend. Da sitzt jede Geste, jedes Detail, da verkommt keine Figur zum Klischee; im Gegenteil, da werden auch kleinere Rollen dramaturgisch stärker mit der Handlung vernetzt. Etwa die Großmutter, die alte Buryja, aus der Hanna Schwarz – stimmlich etwas überzeichnet – die Charakterstudie einer selbstverliebten, zynischen Grande Dame macht, die sich auch zum tragischen Finale teilnahmslos an einem Schluck Sekt delektiert. Und bei genauem Hinsehen sind diese drei sich nach oben immer mehr verengenden Etagen nicht nur eine Metapher für die Ausweglosigkeit der Handlung – sie spielen in ihrer räumlichen Situation sogar auf den Originalschauplatz, eine Windmühle, an.
Fabio Luisis Debüt fällt überzeugend aus
Was der Komponist an mährischem Kolorit in seine Musik eingewoben hat – Tcherniakov negiert es nicht. Doch statt bunter Folklore spiegelt sich in den Ensembleszenen das Rustikale, die Härte einer Gesellschaft, wider, der Sensibilität und Empathie abhandengekommen sind. Und dafür steht sinnbildlich Jenufas Entwicklung. Im ersten Akt der lebenslustige Teenager, im zweiten die eingesperrte Mutter, die noch immer ihrer Utopie nachhängt.
Was für ein starkes Bild offeriert der Regisseur da, wenn die Küsterin vergebens versucht, den Kindesvater Stewa für Jenufa zurückzugewinnen und diese in ihrem "Gefängnis", dem Raum darüber, zusammenbricht ob dessen Nein. Tcherniakov bleibt pessimistisch, er glaubt nicht an das Happyend. Jenufa kann kein neues Leben beginnen mit Laca, der nie aufgehört hat sie zu lieben, den aber sie nie geliebt hat. Nur eines ist klar: Das Schicksal hat sie endgültig verhärmt und hart gemacht – so wie ihre Ziehmutter. Jenufa wird die neue Küsterin sein.
Kristine Opolais verkörpert diese Figur mit fast schon erschreckender Überzeugung. Ihr Rollendebüt beginnt ein wenig verhalten – oder umgekehrt: es wirkt zu sensibel ob der rustikalen klanglichen Kulisse, die Dirigent Fabio Luisi eingangs zeichnen lässt. Aber Opolais spielt nicht nur genau Tcherniakovs Jenufa, sie singt sie auch: Mit ihrem facetten- und obertonreichen lyrischen Sopran könnte sie zu einer der großen Interpretinnen dieser Partie werden. Ein Ereignis ist auch Michaela Martens’ Küsterin: expressiv, verletzlich, elektrisierend; ein paar Blessuren in der Intonation bleiben angesichts solch schonungslosen Singens nicht aus – trotzdem: eine große Partie. Das gilt auch für die beiden Tenöre: Christopher Ventris, der den Laca mit unverbrauchtem, wandlungsreichem Heldentenor singt; und Pavol Breslik, dessen innig-sensibler Mozart-Tenor der Figur des unsteten Stewa etwas Vielschichtiges verleiht.
Fabio Luisis Debüt als Zürcher Generalmusikdirektor fällt unterm Strich überzeugend aus. Im ersten Akt stören rhythmische Ungenauigkeiten und manchmal eben die Klangwucht, mit der der Musikchef der New Yorker Met Janáceks Musiksprache umsetzt. Aber auch hier gilt: Der Abend entwickelt einen Sog, eine klangliche Reife, die nicht nur dem Massiv-Obsessiven Rechnung trägt, sondern in der Janáceks Finessen immer mehr an Gewicht gewinnen. Dank prächtiger Einzelleistungen (Holzbläser, Solovioline), dank einer Klangmelancholie bei den Tuttistreichern, die die Nähe des jungen Janácek zu seinem Freund Dvorák hervorkehrt. Das begeistert auch das Premierenpublikum jenseits der Bravo-Claque in hohem Maße. Andreas Homokis Mission kann weitergehen.