Erste Opernpremiere nach Pereira

Oliver Schneider, DrehPunktKultur (28.09.2012)

Jenufa, 23.09.2012, Zürich

„Tag der offenen Tür“ im Opernhaus: Andreas Homoki, der neue Intendant des Opernhauses Zürich und Pereira-Nachfolger, nahm sich selbst beim Wort, die Oper volksnaher zu machen. Die Züricher, groß und klein, strömten in Haus. Danach: Janáceks „Jenůfa“ als packendes Musiktheater sowie weitere Paukenschläge zu Beginn der neuen Ära. Die Weichen sind richtig gestellt.

Homoki hat die Regie dem viel gefragten Dmitri Tcherniakov, Zürich-Neuling wie er selbst, anvertraut. Ohne mährisch-folkloristisches Kolorit lässt dieser das Drama in einem dreistöckigen Dreigenerationen-Haus spielen. Hier leben die demente Buryja, die sich nur noch um die Pflege ihres Äußeren kümmert (mit immer noch eindrücklicher Präsenz Hanna Schwarz), die verhärmte Küsterin und ihre Ziehtocher Jenůfa zusammen. Modern funktional und kühl ist das Haus und wirkt wie ein psychisches Gefängnis, in dem die drei Frauen über ihre Schicksale aneinander gekettet sind.

Die Küsterin will ihrer Ziehtochter die eigenen Erfahrungen mit Männern ersparen. Sie misstraut dem trinkfreudigen Schönling Števa Buryja (Pavol Breslik mit kernigem Timbre), der nur den Spaß mit seinen Party-Freunden in Äusserlichkeiten und sexueller Befriedigung sucht. So gerne möchte Jenůfa ihm gefallen, dafür tanzt sie sogar lasziv auf dem Tisch. Sie interessiert sich nicht für seinen Halbbruder Laca (Christopher Ventris mit bruchlos strahlkräftige Höhen), ein rechtschaffener, biederer Handwerker, der schließlich mit dem Messer in ihre rechte Apfelwange schneidet. Verdienten Jubel gab es am Premierenabend für Kristīne Opolais Debüt als Jenůfa mit leuchtendem und durchschlagskräftigem Sopran und Michaela Martens expressive Küsterin.

Diskussionswürdig sind der Kindsmord und die Schlussszene: Die Küsterin nimmt Jenůfa zwar ihr uneheliches Kind von Števa weg, das sie wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Vater abgrundtief hasst, aber sie hat nicht die Kraft und Härte, es zu töten. Im obersten Stock pflegt sie es und lebt im Verborgenen ihren verkümmerten Mutterinstinkt aus. Die alte Buryja entdeckt das Kind in seiner Wiege, während sie im Haus umherirrt. Langsam – ob in ihrem Wahnsinn oder in vollem Bewusstsein bleibt offen – stößt sie es aus dem Fenster und erfüllt so den Wunsch der Küsterin, die Schande von Jenůfa und sich abzuwenden.

Dass die Küsterin im Libretto die Schuld am Kindsmord auf sich nehmen will, stellt keinen Bruch zu Tcherniakovs Deutung dar. Sie vollzieht ihn nur nicht mit ihren eigenen Händen. Doch Jenůfa dankt ihr das Schuldeingeständnis nur scheinbar, einen Kindsmord kann man nicht verzeihen. Auch das irreale Happy End zum hymnischen Es-Dur hinterfragt der russische Regisseur. Jenůfa möchte von nun an selbstbestimmt leben, sich nicht von den Fesseln der Küsterin in die Fesseln der Ehe geben. Für Laca ist kein Platz im Frauenhaus. Jenůfa unternimmt ihren ersten selbstbestimmten Schritt.

Tcherniakov blickt tief in die Seelen der Protagonisten, stellt Querverbindungen zwischen ihnen her und hinterfragt klug, was Janáceks „Jenůfa“ dem heutigen Besucher zu sagen hat. Er spielt definitiv in einer anderen Liga als die Michielettos und Herzogs, die oftmals in den vergangen Jahren in Zürich das Sagen hatten. Ebenso erfreulich ist der musikalische Eindruck des Abends. Mit Fabio Luisi, dem neuen Generalmusikdirektor, scheint sich die Philharmonia Zürich, wie das Opernhaus-Orchester ab sofort heißt, in bestem Einvernehmen zu befinden. Luisi leuchtet mit dem bestens disponierten Orchester die Partitur in ihrer Feingliedrigkeit und in ihrer ganzen Härte aus. Sein Zugriff ist unmittelbar und so expressiv, dass er vor allem im zweiten und dritten Akt Beklommenheit auslöst.

Nach dem umjubelten Saisonstart steht das nächste Ereignis steht schon ins Haus: Nach Jahren Abstinenz aus persönlichen Gründen – von einem kurzfristigen Einspringen in einem Liederabend abgesehen – kehrt Edita Gruberova am nächsten Freitag als Tudor-Königin Elisabeth in „Roberto Devereux“ in einer ihrer Paraderollen nach Zürich zurück. Pereira konnte sie nicht dazu bewegen. Und in der „Salome“-Wiederaufnahme werden die international gefeierte Nicola Beller Carbone in der Titelpartie und Cornelius Meister am Pult ihre Hausdebüts geben. Die Weichen sind richtig gestellt.