Unterhaltsamer Geschlechterkampf

Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (02.11.2012)

My Fair Lady, 31.10.2012, Luzern

Ist es bloss augenzwinkernde Emanzipations-nostalgie? «My Fair Lady» am Luzerner Theater macht aus purer Unterhaltung schliesslich doch auch ergreifenden Ernst.

Kann ein Stück, das das Verhältnis der Geschlechter an einem Stoff von 1912 thematisiert, heute noch aktuell sein? Bei Frederick Loewes Musical «My Fair Lady» (1956) fällt die Antwort zwiespältig aus. Nach einem Stück von Georg Bernard Shaw erzieht ein Sprachprofessor eine Göre aus der Gosse in London zur Dame, bis sie ihm ebenbürtig die Stirne bieten kann. Der Mann, der so offensichtlich die Frau nach seinen Vorstellungen formt, wirkt heute angestaubt. Aber als Modell dafür, wie sich Emanzipation aus der Dialektik von Macht und Abhängigkeit ergeben kann, dürfte es zeitlos aktuell bleiben.

Erstickender Bücherpanzer

Das Erste, was an der Inszenierung am Luzerner Theater, die am Mittwoch Premiere hatte, ins Auge fällt, ist dieser Zwiespalt. Regisseur Ansgar Weigner siedelt die Geschichte in einem fast pittoresk-historischen Ambiente an. Die Szenen in der Kneipe, der das Blumenmädchen Eliza Doolittle zu entkommen sucht, bieten Arme-Leute-Folklore wie aus einem nostalgischen Bilderbuch und erinnern auch mal an putziges Landtheater. Und die dickleibigen Bücher, die in der Bibliothek von Professor Higgins nicht nur die Wände bis zur Decke panzern, sondern das ganze Mobiliar bilden, wirken im Digitalzeitalter bis zum Ersticken anachronistisch (Ausstattung: Duncan Hayler).

Allerdings bricht Weigner die demonstrativ vorgeführte historische Distanz durch augenzwinkernde Ironie. Die Autokarossen für die High Society flitzen als Kartonkulissen über die Bühne. Am Pferderennen, wo die erst halbwegs auf gute Gesellschaft gedrillte Eliza erstmals in diese eingeführt wird, rattern im Hintergrund Jockeys auf ihren Pferden vorbei wie in einer Chilbi-Schaubude. Und die Kostüme, in dieser Inszenierung in einer Protagonistenrolle, lassen die Szenerie endgültig ins Surreale kippen – mit Fantasy-Hüten und -Kleidern, die das Spiel mit der Buchmetapher spielerisch weiterführen. Und mit riesigen Büchern als Kleiderkorsett und Brustpanzern für die Frauen.

So kommt diese Inszenierung erstaunlich leicht daher, obwohl sie – als grösstes Manko – Tanz und choreografische Bewegung nur spärlich einbezieht. Höhepunkte diesbezüglich sind die Strassenszenen mit Elizas Vater (Patrick Zielke) und seinen Saufkumpanen, in denen einmal auch die sechs beigezogenen Tänzerinnen und Tänzer prominent auftreten.

Plötzlich wird alles echt

Das alles ist in den Songs (Robert Maszl als liebeskranker Tenor) wie in den Dialogen (Heidi Maria Glössner als Higgins’ Mutter) liebenswürdig-witzig gemacht und bietet mit der vom Luzerner Sinfonieorchester beschwingt gespielten, europäisch geprägten Tanzmusik beste Unterhaltung (musikalische Leitung: Forian Pestell).

Das bestätigten an der Premiere die Lacher und die Stimmen aus dem Publikum, die, so eine Zuschauerin, die «originellen Einfälle einer gesuchten Modernisierung» vorzogen.

Ist das Thema der Emanzipation, wie sie das Stück verhandelt, also Geschichte? Natürlich auch in dieser Inszenierung nicht. Dass man sie als ganz aktuell empfindet, verdankt sie der überragenden Gestaltung der Hauptrollen durch den Schauspieler Jörg Dathe und die Sängerin Marie-Luise Dressen.

Dathe spielt die Frustrationen mit, die dieser verkopfte Higgins hinter seiner polternden Verachtung des Gossenmädchens und der Frauen überhaupt verbirgt – mit einer Stimme, die auch in den Songs in allen Tonlagen raspelt, giftelt und doch einen verletzlichen Kern erahnen lässt. Das macht sogar den Weg zum Happy End plausibel, zumal Marie-Luise Dressen die Figur der Eliza genau auf dieses hin entwickelt – von der rauen Gossengöre über die dressierte Vorzeigedame zu einer Frau aus Fleisch und Blut, die existenzielle Bedürfnisse anmeldet. In den Songs wie im Dialog der Protagonisten wird das unterhaltsame Spiel plötzlich lebensnah und bedrängend echt. Der Schlussapplaus zeigte, dass das Theater damit schon vor Verdis «La Traviata» einen Publikumserfolg auf sicher haben dürfte.