Herbert Büttiker, Der Landbote (22.10.2012)
Eine Arie aus Alfredo Catalanis «La Wally» hat es zu universeller Berühmtheit gebracht bis in den Werbespot hinein. Die Oper selber ist eine Rarität. Nach Bern (2005) zeigt sie sich – als Oper über die Oper – jetzt erstmals auch im Theater St. Gallen.
Arienzauber, eine gleitend melancholische Melodie, raffiniert in die Begleitung versetzt, während die Gesangsstimme zuerst auf einem Ton einsetzt: «Ebben … ne andrò lontana», singt Wally im Bergdorf nahe Sölden. «Nun denn, so ziehe ich in die Ferne.» Ihr Vater, der reiche Bauer Strominger in Hochstoff, setzt sie vor die Tür, weil sie sich weigert, den von ihm favorisierten Bewerber Vincenzo Gellner zu heiraten. Sie hat den blendenden Bärenjäger Giuseppe Hagenbach im Sinn, und sie ist stolz und starrköpfig wie ihr Vater, dem sie den männlichen Erben ersetzt – auch mit männlichem Einsatz: Bekannt im Tal wurde Walburga Strominger als Geier-Wally, die in die Felswände kletterte, um die Nester der Raubvögel auszunehmen.
Von der schönen und unnahbaren Geier-Wally handelte Wilhelmine von Hillerns Bestseller, der 1887 auch in einer Mailänder Zeitung in Fortsetzung erschien und Alfredo Catalani faszinierte. Der damals 29-jährige Komponist, der dazu ersehen schien, der italienischen Oper nach Verdi den Weg zu weisen, aber dann von den Veristen um Mascagni und von Puccini verdrängt wurde, hatte hier seinen Stoff gefunden. Der durchschlagende Erfolg mit «La Wally» änderte jedoch nichts mehr am Lauf der Dinge, schlicht auch deshalb, weil Catalani nur eineinhalb Jahre später, am 7. August 1893, erst 39-jährig, an der Tuberkulose starb.
Tonbilder vom ewigen Schnee
Kuraufenthalte in den Bergen (so auch im Appenzell) bestimmten das Leben Catalanis mit, aber die Faszination der alpinen Welt hatte auch in der Oper Tradition. Die kristallklare Seelenlandschaft von Bellinis «Sonnambula» kehrt hier noch einmal gesteigert wieder: Der letzte Akt der «Wally» spielt in erhabenen Gletscherhöhen, und hier im Tongemälde vor dieser eisigen Kulisse zeigt sich konzentriert Catalanis eminente Begabung für imaginative Klänge in eigenwilliger Instrumentation, für Orchesterzauber, den Gustav Mahler bewunderte und Arturo Toscanini zum Anwalt von Catalanis Werk machte.
Einen hervorragenden Anwalt hat Catalani jetzt auch wieder im Sinfonieorchester St. Gallen und dem Dirigenten Modestas Pitrènas. Ein luzides und farbiges Musizieren bestimmt den Abend, klar konturiert und ausbalanciert mit der Bühne, wo auch der Chor klangvoll und präzis präsent ist. Auch Stimmen und Instrumentaleinsätze (Hörner, Trompete) hinter der Bühne tragen zur atmosphärischen Intensität bei, im Orchestergraben zumal auch die Harfe.
Die Bäuerin als Diva
Nicht durchwegs auf derselben Höhe bewegte sich die Besetzung der Hauptpartien. Viel stimmliches Rohmaterial und Ungefähr bot der Bariton Gabriel Suovanen als Vincenzo Gellner. Steigerungsmöglichkeiten von Akt zu Akt und Standfestigkeit in den hohen Phrasen der letzten Szene zeigte der Tenor Arnold Rawls. Mit betörendem Schmelz gestaltete Mary Elizabeth Williams vor allem die lyrisch innigen Momente der Titelpartie. Wer auf die berühmte Arie wartete, wurde nicht enttäuscht, ausser in wenigen forcierten Höhen, die sich in den dramatischen Passagen der Partie auch häuften. Dass diese Wally am Ende aber kühl liess, lag an der darstellerischen Interpretation, die die Inszenierung dem Werk aufpfropft.
Während sich gemäss Partitur auf dem Gletscher im Wiedersehen von Wally und Hagenbach die Fragen um Schuld und Liebe klären, zeigt die Inszenierung eine Frau, die sich vor dem Spiegel räkelt und schminkt, als ob sie das alles nichts angehe. Der Regisseur Guy Joosten sieht in Wally eine Träumerin, die so hoch hinaus will wie möglich. Die Liebe ist für sie eine Frage der Dominanz. Unerreichbarkeit ist ihr Ziel, das sie zuletzt irre lächelnd erreicht, ganz oben als Operndiva in der eisigen Bühnenwelt namens Oper (!?), selber zum Eisschrank geworden.
Die Arie als Schlager
Rahmen der Inszenierung (Bühne und Kostüm: Johannes Leiacker) bilden hier nicht das Ötztal und das Hochgebirge, das plakativ zitiert wird, sondern das Theater und sein mondänes Umfeld. Darstellerisch finden sich nicht nur die Protagonistin, sondern auch alle anderen prägnant in die anvisierten Rollenbilder, Gellner als verklemmter Schwerenöter, Hagenbach als Salonlöwe, Strominger (David Maze) als kauziger Patriarch, Walter als androgynes Wesen im Schottenrock (Alison Trainer).
Die Rezeption, die von «La Wally» nur den Schlager übrig liess, mag den Ansatzpunkt für diese Deutung der Figur gegeben haben. Entsprechend wird «Ebben … ne andrò lontana» hier von Wally auf einer Bühne vorgetragen und die Arie als Konzertnummer vor Publikum von ihrer Funktion als unmittelbarer Ausdruck der Figur und als Moment der Handlung entkoppelt. Damit geschieht dem Werk aber aufs Neue, was ihm die Rezeptionsgeschichte angetan hat. Die Reduktion auf den Opern-Ohrwurm wird gleichsam von höherer Regiewarte aus neu sanktioniert.
Hinzu kommt, dass die szenische Erzählung auch manche Schwachstellen aufweist. Gelingt es im zweiten Akt noch, die Kussszene im Ambiente der Cocktailparty, aufgepeppt mit einer Model-Show, mit Spannung zu füllen, fällt es im dritten und vierte Akt schwer, das Geschehen plausibel zu verorten, und der Ansatz einer Traumszenerie hat die Bildfantasie für den Rettungsabstieg in die Schlucht enttäuschend wenig auf Trab gebracht.