Traumkonzept und Realität

Herbert Büttiker, Der Landbote (21.03.2006)

La Favorite, 19.03.2006, Zürich

Ein französischer Donizetti: «La Favorite» war ein Dauerbrenner der Pariser Opéra, und die Musik glüht noch heute. Die Produktion des Zürcher Opernhauses gerät dennoch reichlich kühl.

Einer war gar nicht kühl: Am Dirigentenpult stürzte sich Marc Minkowski geradezu in die Musik. Temporausch und weites Ausholen zur grrossen Emphase gibt es schon in der Ouvertüre, und immer wieder hat der Abend mitreissenden Zug, weil die Musik sich in aller agogischen Freiheit entfaltet, im Eruptiven wie in musikantischer Leichtigkeit immer in den Extremen. In den rasanten Beschleunigungen vergisst Minkowski vielleicht, dass er nicht ein schlankes Barock-Ensemble vor sich hat, sondern einen grossen Opernappart mit Chor, grossen Stimmen und nebenstimmenreicher Orchestration, und auch der Hörer vergisst es zumeist, und kleine Patzer, sich anbahnende Verwacklungen zwischen Bühne und Orchestergraben erinnern dann doch daran, dass der unglaubliche Schwung dieses Musizierens eine Gratwanderung bedeutet.

Zu viel und zu wenig

Eine vergleichbare Unbedingtheit im Umgang mit dem Werk lässt die Inszenierung vermissen. Philippe Sireuil vermeldet im Programmheft seine Mühe mit dem Libretto, und auf der Bühne beschränkt er sich auf die vordergründige Geschichte und plumpe Bildsymbole (Schach, Stier, Fisch). Für die Deutung der Figuren und Konflikte sind die Sänger auf sich gestellt – und da vertut sich auch eine Vesselina Kasarova (Léonor) mit all dem Kapital ihres Mezzosoprans in einem Zuviel an aufgesetzt wirkender Gestik, ein Fabio Sartori (Fernand) kommt mit seinem lyrisch intensiven und deklamatorisch griffigen Tenor gar nie richtig ins Spiel, Roberto Servile (Alphonse XI), der auch mit der Intonation seines Baritons kämpft, ist als Figur wenig greifbar. Am ehesten finden sich Jaël Azzaretti (Inès) mit ihrem brillanten Sopran und Carlo Colombara (Balthazar) mit seinem kernigen Bass in schlüssigen Rollenprofilen wieder.

Was wird eigentlich gespielt? Fernando verlässt das Kloster wegen einer Frau. Die Schöne Leonore empfängt ihn inkognito auf einer paradiesischen Insel, aber statt die Einwilligung ins dauernde Liebesglück erhält er von ihr ein Offizierspatent. Sie liebt ihn, aber sie ist die Favoritin des Königs. Sie leidet unter der Verachtung der Hofgesellschaft: Wir sind im strengen Spanien der Reconquista und der allmächtigen Kirche. Alphonse XI besiegt dank Fernand die Mauren. Dieser wünscht sich dafür die Verbindung mit Leonore. Erst nach vollzogener Trauung wird er über Leonores Vergangenheit aufgeklärt, weil ihn ihre entsprechende Botschaft nicht erreicht hat. Fernand macht dem König, der zerknirscht ist, eine wüste Szene und zieht sich zurück ins Kloster. Leonore, vom Hof verstossen, sucht ihn auf, um sich zu erklären. Die Liebe erwacht aufs Neue, aber Leonore, von den Strapazen gezeichnet, stirbt.

Musikdramatik

Gut, die Geschichte könnte auch nur ein Schmöker aus dem vorletzten Jahrhundert sein, aber sie hat als Opernlibretto grosses dramatisches Potenzial. Zum einen sind die fundamentale Antagonismen im Spiel: Kirche und Staat, rigorose Moral und höfische Libertinage, Krieg und Liebe, der Lärm der Welt und die Stille des Klosters. Zum anderen entwickelt das Libretto psychologisch spannende Konfrontationen in Duett- und Ensembleszenen und innere Konflikte, die sich in Arien spiegeln – herausfordernde Angriffspunkte für den Musikdramatiker und Melodiker Donizetti, der mit diesem Stoff für die Grand Opéra eine seiner reichsten Partituren schrieb: stark in der musikalischen Ensemble-Architektur und grosszügigen Melodik, eindrücklich in den atmosphärischen Gegensätzen von entrücktem Mönchsgesang und aufreizendem Chor der Frauen auf der Lustinsel, von brillanter Ballettmusik und klangmassiver Machtdemonstration der Kirche, wenn der Prior mit dem Bannfluch des Papstes droht – dies alles organisch verbunden. Dass das Werk in grossen Teilen aus gestrandeten Vorgängerprojekten besteht, würde man nicht denken.

Geschlossen und spiegelnd schwarz ist der Bühnenraum (Vincent Lemaire). Aussparungen geben Formen und Farben für Palastprunk frei, am Boden im zweiten Akt ein Schachbrett für das wenig aufregende Ballett (Avi Kaiser): ein atmosphärisch starkes Konzept für das düstere Werk. Auch der barocke Kontrast mit einem fischförmigen Schiff und den auf dem Segel vom Bühnenboden herabschwebenden Damen im zweiten Bild integriert sich als surreales Traumgeschehen im ersten Akt noch ins schwerblütige Drama, verkommt dann aber zunehmend zum belanglosen Anhängsel und erntet im vierten Akt unfreiwillig etliche Lacher. Mit dem brennenden Segelschiffchen strandet das Traumkonzept.

Vesselina Kasarova

Dirigentische Abenteuer, szenisch mässige Orientierung, dazu Kostüme (Jorge Jara) von heterogener Qualität: das sind nicht die Voraussetzung zu sängerischen Bestleistungen. Vesselina Kasarova, der diese Produktion ja gleichsam gewidmet ist – sie hat die Partie zwar schon auf CD, aber jetzt zum ersten Mal szenisch interpretiert, – machte an dieser ersten Aufführung einen noch eher unausgeglichenen, im letzten Akt auch ermüdeten Eindruck. Aber neben forcierter Höhe, verflatternden Linien, abgedunkeltem Timbre gab es die Momente von gefasstem Temperament und gelöster Klangentfaltung wie in der Arie «O mon Fernand» – vieles, was ihr als Publikumsliebling am Ende auch gedankt wurde.