Herbert Büttiker, Der Landbote (11.12.2012)
Vielen hat es der Intendant und Regisseur Andreas Homoki mit seiner unromantischen Sicht auf Richard Wagners «Fliegenden Holländer» nicht recht gemacht. Keine Zweifel gab es an der expressiven Stimmigkeit der musikalischen Umsetzung.
Bryn Terfel, der für die Titelgestalt des «Fliegenden Holländers» auf der Bühne steht, ist eine Ausnahmeerscheinung, stimmlich ein voluminöser wie farbiger Bassbariton, mit grosser Substanz nicht nur im Forte, sondern gerade auch im raunenden Piano: Da ist alles Dämonie und Geheimnis. Der weltschmerzlerische Nihilismus und die sentimentale Erlösungshoffnung, die den sagenhaften Seefahrer an Land treiben, leuchten in seiner Stimme in der schwärzesten Farbe der Romantik. Seine famose Bühnenpräsenz als Darsteller erhält den zusätzlichen Dreh einer ingeniösen Regie, die ihn spukhaft auftreten und verschwinden lässt und ihn auch mal gleich mehrfach erscheinen lässt.
Aber es ist keine superromantische Inszenierung, die Andreas Homoki mit der vexierenden Titelfigur seinem Publikum präsentiert. Der Clou seiner Sicht auf die Wagner-Oper ist vielmehr, dass es da keine romantische Welt gibt: keine wilde, stürmische Meereslandschaft, kein gespenstisches Holländerschiff, am Ende keine Klippe, von der sich Senta im Angesicht des Erhabenen in den Erlösungstod stürzen könnte. Wolfgang Gussmanns grandiose Bühne führt für das ganze Stück in den zentralen Raum von Dalands Handelsimperium. Die Oper spielt von der ersten bis zur letzten Szene (ohne Pause) im gründerzeitlichen Büro mit Morseapparat, Telefonen, Schreibmaschinen zwischen schwerem Eichengetäfer. An der Wand hängen Seekarte und riesige Seestücke in Öl, und wenn sich eines davon bald als Bildschirm erweist, auf dem sich das Meer bewegt und einmal auch das Holländerschiff wie ein Spielzeug vorbeizieht, ist das gewiss eher eine ironische Erfüllung konventioneller Erwartungen als expressive Inszenierung von Meeresdramatik. Wagners stürmische Tonbilder finden in anderer Weise ihre szenische Entsprechung.
Virtuos lässt die Regie nämlich ahnen, dass es in der geordneten Bürgerwelt selber die andere Seite gibt, wenn die Büromenschen wie auf dem stürmischen Meer ins Schlingern und Taumeln geraten. Natürlich geht diese Substitution der romantischen Schauplätze durch das surrealistische Geschehen in Dalands Bürokomplex nicht ohne Nonchalance dem Textbuch gegenüber. Auf der Gewinnseite stehen aber unerwartete Einblicke in Wagnersche Abgründe: Wenn der Spuk des Holländerschiffes in der Chorszene des dritten Aktes hier als die Angstvision eines im afrikanischen Busch ausbrechenden Weltenbrandes erscheint, ist das nicht so weit hergeholt, wie man vielleicht denkt – die Vernichtung der Zivilisation (konkret vor allem Paris) gehörte zu Wagners Lieblingsfantasien.
Kein Verklärungsschluss
Unromantischer kann ein Bühnentod nicht sein: Senta hält sich im Grossraumbüro des Vaters vor versammelter Belegschaft das Gewehr, das sie Erik entreisst, unters Kinn und drückt ab. Und dann folgt nicht einmal die Minimalvariante von Wagners Apotheose des Paars über dem Meer; die Maximalvariante des harfenrauschenden «Verklärungsschlusses» aus der Tristan-Zeit schon gar nicht. Auch von Wagners Anweisung der Urfassung – «in weiter Ferne entsteigen dem Wasser Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt» – bleibt nichts. Diese Senta stirbt ganz für sich und damit auch für nichts. Wenn wie hier alle romantische Verbrämung abgeblättert ist, ist dieser Tod – der Schock im Saal war spürbar – eine künstlerische Gewalttat, und es ist nur die Frage, ob sich die Antipathie gegen das Werk oder die Inszenierung richtet.
Wagner stellt der Frau eine zynische Falle: Um dem Holländer «ewige Treue» zu halten, muss Senta das zuvor dem Bewerber Erik gegebene Versprechen brechen, damit aber eingestehen, dass ihre Schwüre nicht so über alle Zweifel erhaben sind, wie es der Idealmann verlangt. Der Skandal dieser tödlichen Paradoxie ist umso grösser, als Homoki gerade nicht der gängig gewordenen Interpretation folgt, die Senta als pathologischen Fall einer an der Enge ihrer miefig-bürgerlichen Krämerwelt zugrunde gehenden Kindfrau versteht. Hier gibt sich eine starke Frau den Tod, gross geworden im weltläufigen Haus des Grosskaufmanns. Matti Salminen, einmal mehr der Daland in einer Zürcher Neuinszenierung, ist diesmal nicht die biedere Krämerseele, sondern der mächtige Patron, vor dessen knorrig-imposantem Bass das Heer der Angestellten kuscht. Da kann sich auch die Tochter einiges herausnehmen.
Zwischen zwei Männern
Für diese selbstbewusste Senta mobilisiert Anja Kampe alle stimmlichen Ressourcen, die sie bis an die Grenzen expressiv, aber musikalisch überlegen einsetzt. So gelingt es ihr, eine weniger hysterische als von unbändigem Willen getriebene Persönlichkeit zu zeichnen. Wenn sie die Ballade vom fliegenden Holländer vorträgt, wird diese auch zum Protestlied gegen die Uniformität der Büroameisen ihres Vaters, und dass sie sich dabei ihres grauen Deuxpièces entledigt, ist nur konsequent. Als sie dann dem Holländer gegenübersteht, scheinen sich durchaus lebensvolle Hoffnungen zu erfüllen, und lebensvoll stellt sie sich auch dem Konflikt mit Erik. Marko Jentzsch gibt ihn als Tenor-Liebhaber von Format, und in der entscheidenden, vom Holländer belauschten Aussprache mit Senta macht die Regie deutlich, dass seine Ansprüche bei ihr volles Gewicht haben. Es sieht ganz nach dem Dreieckskonflikt eines bürgerlichen Dramas aus (den gewöhnlich Opern-Männer unter sich lösen). Aber hier bekommen wir es nun eben mit Wagners Vernichtungsfuror zu tun und mit einer Regie, die ihn ungeschönt herausstellt.
Über alles Mass
Irgendwie tobt dieser Furor auch musikalisch. Im Aufruhr der Elemente, im cholerischen Monolog des Holländers oder in der tumultuösen Chorszene imaginiert Wagner seine Musik, mit der er die romantisch-biedermeierliche Oper an die Wand fährt. Diese ist im Steuermannslied (schön Fabio Trümpy), in den Spinnstuben- und Dalandszenen im «Holländer» selber ja reichlich vorhanden und erhält mit der Philharmonia Zürich melodiöse Wärme und federnden Schwung, die aufhorchen lassen. Musikalisch geleitet wird die Produktion von Alain Altinoglu, einem französischer Dirigenten (Jahrgang 1975) mit wacher Sensibilität, sicherem dramatischem Zugriff und dem Gespür für sängerischen Freiraum. Die Protagonisten kosten ihn aus, auch zu sehr: Die Extremphrasen im Finale spreizen sie fortissimo über alle Massen: zu niemandes Erlösung und Heil.