Martina Wohlthat, Neue Zürcher Zeitung (17.12.2012)
Die blendend weisse Doppelhaus-Fassade könnte auf einem Gemälde von Edward Hopper als Hintergrund für das amerikanische Alltagsleben dienen. Aufgeräumt und leer sieht es in diesem Boston zu Beginn von Giuseppe Verdis Oper «Un ballo in maschera» am Theater Basel aus. Dann treten im Bühnenbild von Werner Hutterli die Herren des Opernchores auf, die zunächst das Frühstücks-Ei des Gouverneurs akribisch auf Spuren von Gift oder Sprengstoff untersuchen und bald schon zu Cancan-Klängen in tänzelnde Vergnügungslaune geraten. Das nun scheint eher ins Paris des 19. Jahrhunderts als an die sittenstrenge amerikanische Ostküste zu passen, wohin Verdi und sein Librettist Antonio Somma auf Druck der Zensur den Schauplatz der Oper verlegen mussten, nachdem die Zensoren gegen die ursprünglich geplante Vertonung der Ereignisse um die Ermordung des schwedischen Königs Gustav III. Einspruch erhoben hatten. Doch egal, ob Stockholm oder Boston, für die Regisseurin Vera Nemirova, die erstmals am Theater Basel Regie führt, tarnt sich die Musik bloss mit Munterkeit – hinter dem Maskenvergnügen lauert Unheimliches.
Das Unheil ist in der Oper personifiziert in den Verschwörern Samuel und Tom, die dem Gouverneur Riccardo nach dem Leben trachten. Es haust am Rande der Gesellschaft im esoterischen Kreis der Wahrsagerin Ulrica (Sanja Anastasia), die erst Satan befragen muss, bevor sie ihren Anhängerinnen Auskunft über das Schicksal geben kann. Es weht um die Gräber des Friedhofs, wo Amelia nachts Vergessen und Befreiung von der Abwegigkeit ihrer Liebe sucht. Es wohnt hinter der hellen, glatten Fassade, wo Lüge und Betrug ihr zerstörerisches Spiel treiben. Im Inneren des weissen Hauses gärt es, Gouverneur Riccardo und sein Berater Renato wohnen Tür an Tür und lieben dieselbe Frau – Renatos Ehefrau Amelia.
So verlagern sich die Konflikte in Vera Nemirovas Inszenierung bald von der politischen Ebene ins Private. Der Gouverneur präsentiert sich leger im offenen Morgenmantel, sucht Zerstreuung in einer Affäre. Riccardo Massi verleiht diesem nachgiebigen Helden elegantes Auftreten und glänzendes stimmliches Profil, bringt seine Arien mit mühelosem, strahlkräftigem Tenor und vorbildlichem Legato zum Erblühen. Riccardos Handeln haften Züge von Verblendung an, als suche er in einer ausweglosen Situation förmlich den Tod. Die Regisseurin erzählt das Stück als Geschichte über Politiker in öffentlichen Machtpositionen, die unversehens von ihren Gefühlen übermannt werden.
«Der Hass trifft sein Opfer schneller als die Liebe», singt Riccardos Freund und Vertrauter Renato im ersten Akt. Zu diesem Zeitpunkt weiss er noch nicht, dass auch er Teil der fatalen Dreiecksgeschichte ist. Der koreanische Bariton Eung Kwang Lee wirkte am Premierenabend etwas angestrengt und zurückgenommen. Gleichwohl gelang es ihm, aus der undankbaren Rolle des Betrogenen einen starken Gegenspieler zu machen. Im Konflikt zwischen den Ehepartnern wurde deutlich, bei wem die Sympathien der Regisseurin liegen. Sie zeigt die Figur der Amelia nicht nur als Opfer einer zum Scheitern verurteilten Liebe, sondern als selbstbewusste Person. Indem Amelia die Wahrsagerin aufsucht und Erlösung vom Liebeszauber sucht, konfrontiert sie sich mit sich selbst.
Im zweiten Akt nimmt sie symbolisch zweimal die Maske ab, offenbart sich – das erste Mal, als sie Riccardo gegen ihren Willen ihre Liebe gesteht, das zweite Mal, als sie und Renato den Verschwörern in die Hände fallen. Dieses Sich-Offenbaren hat fatale Folgen. Renato, der sich betrogen wähnt, wechselt auf die Seite der Verschwörer und tötet auf dem Maskenball seinen Nebenbuhler. Die Rolle der Amelia wurde an der Premiere von der Sopranistin Sunyoung Seo gesungen, die über eine tragfähige, in den Höhen mitunter zur Schärfe neigende Stimme verfügt, die die Rolle der innerlich zerrissenen Ehefrau und Geliebten jedoch wohltuend unaufgeregt verkörperte.
Die Inszenierung ist intelligent und gut durchdacht, wirkt aber insgesamt etwas brav und verliert sich in zu vielen szenischen Details. Am deutlichsten wird das, wenn in der Liebesszene von Riccardo und Amelia auf dem Friedhof plötzlich Soldaten aus den dort aufgestellten Zinksärgen steigen und mit ihren Familien wieder vereint werden. Das ist an sich durchaus emotional berührend, aber die Vermischung der Ebenen wirkt etwas unglücklich. Man fragt sich, ob der betörende Gesang der Liebenden, der gerade seinem emotionalen Höhepunkt zustrebt, hier die Toten auferstehen lässt oder ob das Ganze als eine Utopie gegen Krieg und Gewalt gedacht ist. Ähnliches geschieht in der finalen Ball-Szene: Hier setzen die Regisseurin und ihre Kostümbildnerin Birgit Hutter im wahrsten Sinne des Wortes Tod und Teufel in Bewegung, man wähnt sich auf einer Halloween-Party. Dennoch scheint die unmittelbare Nähe von Komik und Katastrophe nicht wirklich zugespitzt.
Musikalisch überzeugt die Produktion durch die ausgeglichene Ensembleleistung, woran Orchester und Chor ihren starken Anteil haben. Unter dem Dirigenten Giuliano Betta, seit der Spielzeit 2010/11 Erster Kapellmeister am Theater Basel, wurde Verdis Partitur temperamentvoll und differenziert musiziert, einzig die rhythmische Seite liesse sich noch stabiler auffassen. Durch die weiträumige Art des Musizierens wurde nachvollziehbar, wie häufig gerade in dieser Oper grossräumige musikalische Szenen und Ensembles an die Stelle geschlossener Nummern treten. Alles in allem ist die Aufführung nicht gerade als aufregende Neudeutung zu bezeichnen, wohl aber als szenisch und musikalisch ansprechende Produktion, die die Eigenheiten des Werkes für eine einlässliche Lesart nutzt.