Sigfried Schibli, Basler Zeitung (17.12.2012)
«Ein Maskenball» am Theater Basel bietet einen packenden Auftakt zum Verdi-Jahr
Es ist vielleicht Verdis menschlichste Oper, handelnd von Liebe und Zurückweisung, von Verrat und Eifersucht, von feigem Mord und grossmütigem Verzeihen. In «Un Ballo in Maschera», uraufgeführt 1859 in Rom, ist noch das alte Schema der Nummernoper gewahrt, und doch blitzen schon die feinen Raffinessen des Spätwerks von Giuseppe Verdi (1813–1901) auf. Bereits die Orchester-Ouvertüre ist ein Kunststück an filigraner Stimmenverflechtung, manche Ensembleszene ist hoch komplex in der Simultaneität der gegensätzlichen Aussagen, und am Ende riskiert Verdi gar das Schwerste, den Widerspruch zwischen Handlung und musikalischem Charakter: Während der Graf Riccardo von Warwick sein Leben aushaucht, dudelt eine fünfköpfige Streichertruppe fröhlich ihr belangloses Liedchen weiter. Das tut weh und wohl zugleich. Daneben gibt es, unnötig zu betonen, viel Arien-Wohllaut und Koloraturen-Akrobatik.
Lange hat man den «Maskenball» am Theater Basel nicht mehr gesehen, jetzt haben wir ihn – dem bevorstehenden Verdi-Jahr zum Dank – wieder. In einer Interpretation, die musikalisch ebenso wie szenisch fesselt und überzeugt. Vera Nemirova heisst die Regisseurin, die sich dieses über zweieinhalbstündigen Musikdramas angenommen und es zum Bühnentriumph geführt hat. Die noch vor Kurzem mit einem kompletten Wagner-«Ring» in Frankfurt am Main gefeierte Inszenatorin arbeitet konsequent mit Todessymbolen. Schon während der Ouvertüre werden wir Zeugen, wie das Frühstück für den Grafen darauf getestet wird, ob es nicht vergiftet ist – und siehe da, der Tee sollte ihm den Tod bringen. Er rafft nur einen anonymen Tester dahin.
Wechselnde Perspektiven
Was zu Beginn ein wenig weit hergeholt wirkt, erweist im Verlauf des Abends seine Logik. Denn von da an liegt der Mord gegen den Grafen gleichsam in der Luft. Die Verfolger sind überall und stets zu allem bereit. Sterben wird Riccardo aber nicht an einem Getränk, sondern durch die Rache seines Freundes Renato, in dessen Frau Amelia der Graf – wie man ebenso schön wie unzutreffend sagt – unsterblich verliebt ist. Ein Ehrenmord, wie er selbst heute noch vorkommt. Der Maskenball ist zugleich Totentanz.
In Verdis «Maskenball» fügen sich verschiedene theatergeschichtliche Ebenen ineinander, und Vera Nemirova analysiert das Stück schlüssig und gekonnt auf diese Schichtung hin, ohne uns einen akademischen Vortrag zu halten. Das ist keine Inszenierung aus einem einzigen Guss, sondern eine mit Brüchen und faszinierenden Facetten.
Der Richter, der im ersten Akt die Verbannung der Magierin Ulrica verkündet, wirkt wie aus einer Buffa von Rossini entliehen. In der Szene, da die Wahrsagerin dem Grafen den Tod durch die Hand eines Freundes weissagt, werden Elemente einer romantischen Geisterwelt zitiert, wie sie etwa auch Carl Maria von Webers «Freischütz» prägen. Danach gibt es ein bürgerliches Trauerspiel um Beziehungen im Spannungsfeld der Politik, bis der titelgebende Maskenball im dritten Akt mit einem wahren Totenreigen alle privaten Geschichten hinwegfegt.
Ausgeloster Mörder
Zu lachen gibt es bei einem «Maskenball» nicht viel, und doch: Die Regisseurin lässt uns wenigstens schmunzeln über die Reaktion Renatos, der die Untreue seiner Gattin nicht scheintolerant hinzunehmen bereit ist. Zu Beginn des dritten Akts wirft er ihre Habe schlicht zum Fenster des Doppel-Einfamilienhauses hinaus, in dessen anderer Hälfte der Graf wohnt: Kissen, Stühle, eine Matratze (Bühne: Werner Hutterli).
Das Kind der beiden schaut teilnahmslos zu, wird später sogar in den Mordplan seines Vaters eingebunden – eine deutliche Aufwertung dieser namenlosen Partie. Eingeflochten sind hier Szenen einer Tragödie in der modernen Kleinfamilie, denn die verbotene Liebe des Grafen zur verheirateten Amelia führt alle Beteiligten an den Rand einer Existenzkrise und den Grafen sogar in den Tod. Witzig der Einfall, dass Renato das Plakat des «Yes, I can»-Siegers Riccardo zerreisst und daraus die Zettel herstellt, auf denen die Namen der drei möglichen Attentäter stehen. Amelia wird den Täter ziehen müssen – ihren Mann.
Vollends zum inszenatorischen Höhepunkt wird der «Maskenball» im dritten Akt. Hier führt uns die Regie in einer dunklen, gespenstischen Szenerie lauter Todesfiguren vor, nachdem wir schon am Ende des ersten Aktes mit sechs Särgen als Mahnmalen des Todes konfrontiert worden waren und die Wahrsagerin Ulrica durch Schüsse aus dem Hinterhalt gefallen ist. Riccardo trägt ebenso wie Oscar schwarze Flügel, sogar das Kind von Amelia und Renato ist als Totengerippe verkleidet. Zuletzt aber suggerieren bunte Discokugeln eine verzweifelt-irreale Heiterkeit.
Auch musikalisch ist das ein starker Abend. Nach einer leichten Irritation der Streicher in der Ouvertüre zeigte das Sinfonieorchester Basel in der Premiere am Samstag eine konstant hochstehende Performance.
Ausgeglichene Besetzung
Der Basler Theaterchor von Henryk Polus hatte szenisch wichtige Aufgaben und sängerisch fulminante Auftritte, ergänzt durch die Mädchen- und die Knabenkantorei. Die Protagonisten der Oper – in der Premiere viele Gäste neben wenigen Ensemblemitgliedern – sorgten für eine gleichbleibend hohe musikalische Qualität, für die natürlich auch der Dirigent Giuliano Betta mit seinen entschiedenen, oft recht straffen Tempi mitverantwortlich war.
Der Tenor Riccardo Massi war ein schauspielerisch etwas steif geführter, sängerisch über ein dichtes Legato und grosse Kraftreserven verfügender, nie die Stimme forcierender Graf von Warwick. Zwei aus Südkorea stammende Gesangskünstler bildeten eine Stütze des Sängerensembles. Eung Kwang Lee als Renato klang baritonal zu Beginn noch ein wenig matt, steigerte sich stimmlich aber zunehmend bis zu seiner grossen Erinnerungs-Arie im dritten Akt. Vollends triumphal war die Besetzung der Amelia durch die Sopranistin Sunyoung Seo, deren expressiv gespanntes Piano einem etwa in ihrer grossen f-Moll-Arie im zweiten Akt (mit schönem Englischhorn) fast das Blut in den Adern stocken liess. Dass diese Sängerin auch unendlich viel Kraft in den Stimmbändern hat – es konnte einem nicht entgehen.
Die hohe Sopranpartie des androgynen Oscar war in der Premiere bei Tatjana Charalgina in den besten Händen – auch optisch in der Metamorphose vom sexy Varieté-Girl zum schwarzen Todesboten. Eine durchschlagskräftige Ulrica-Zauberin hat die Basler Produktion auch: die Altistin Sanja Anastasia mit ungemein kräftigem tiefem Register, beeindruckendem Volumen und beachtlicher Textverständlichkeit.
Keine einzige Missfallensbekundung trübte die Freude über diesen Basler Opernerfolg.