Bierbäuche und Riesentitten

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (14.01.2013)

La Traviata, 12.01.2013, Luzern

Eine «Traviata», die in allem so ganz anders sein will

Im Jahr des 200. Geburtstags von Giuseppe Verdi zeigen vier Schweizer Theater «Rigoletto», zwei den «Maskenball» und zwei weitere «La Traviata». Die populäre «Aida» fehlt ebenso wie die Frühwerke und Verdis späte Opern «Otello» und «Falstaff». Der Januar gehört der «Traviata», die man seit Samstag am ­Luzerner Theater und Ende Monat am Grand Théâtre de Genève sehen kann.

Muss man denn immer und immer wieder die Geschichte der Kurtisane Violetta Valéry zeigen, sich stets aufs Neue an festlichen Kostümen erfreuen und sich immer wieder die gleichen Tränen abwischen? Das mag sich der Tessiner Regisseur Lorenzo Fiorini gefragt haben, dem das Luzerner Theater nach seiner «Sonnambula» 2010 jetzt «La Traviata» anvertraute. Nein, ­lautete Fiorinis trotziger Entschluss, ich will es anders! Und er zeigt uns eine vulgäre Nutte Violetta Valéry, aufgemotzt mit Glitzerkostüm und wabbelndem Riesenbusen, die sich in einer noch nicht ganz fertig gebauten Kneipe (Bühne: Werner Hutterli) in­mitten einer Meute lüsterner Bierbauchgäste breitbeinig auf einen Tisch legt. Die Freiheit, die sie besingt («Sempre libera…»), ist die Freiheit, ihr Fleisch auf den Markt zu tragen. Echt widerlich, das Ganze.

Sprache der Kontraste

Regisseur Fiorini arbeitet mit Brüchen und Kontrasten, und natürlich kann dann die Violetta Valéry des zweiten Teils nur eine ganz gewöhnliche junge Frau ohne Ausstrahlung, ohne ­Perücke und ohne Vorbau sein. Wie ein Häufchen Elend sitzt sie am Bühnenrand und schaut dem bunten Festtreiben zu, das demjenigen in der ersten Szene aufs Haar ähnelt. Wäre ihr Ex-Mann Alfredo nicht andauernd mit der Lösung seiner Vaterprobleme beschäftigt, könnte er es glatt nochmals mit ihr versuchen. Doch dann stirbt die gewandelte Kurtisane einen jämmerlichen, einsamen Tod inmitten von Hanswursten, die eine Schachtel nach der anderen mit Schuhen und Kleidungsstücken hereintragen, den traurigen Überresten ihres früheren Luxuslebens.

Noch mehr Kontrast gefällig? Alfredos Vater Giorgio Germont ist nicht der geschniegelte Herr mit grauen Schläfen, den wir aus anderen Inszenierungen kennen, sondern ein ­freudloser asketischer Bettelmönch, dem jede menschliche Regung fremd zu sein scheint. In Todd Boyce hat diese Figur immerhin einen glaubwürdigen Darsteller. Der Südkoreaner Carlo Jung-Heyk Cho ist als Alfredo anfänglich stimmlich schwach und steigert sich bis zu einem schlanken, kräftigen Forte, ohne allerdings als Figur sonderlich an Format zu gewinnen. Svetlana Doneva ist die vom Premierenpublikum leidlich gefeierte Titeldarstellerin. Dafür, dass die Regie sie in den undankbarsten Posen und Verkleidungen zeigt, macht sie ihre Sache sehr gut. Mit der Annina von Dana Marbach hat sie ein Schätzchen zur ­Seite, das sich seiner Menschlichkeit nicht zu schämen braucht.

Im Graben verwirklicht das Luzerner Sinfonieorchester unter James ­Gaffigan mit nicht selten übertrieben sentimentalem Spiel einen Teil der Emotionen, die uns die Regie ver­weigert. Der Rest dieser unsäglichen Produktion aber möge in dem Stoff ­ver­schwinden, den uns das Theater im Übermass zumutet: im Trockeneis, das selbst die gut gemeinten Übertitel vernebelt.