Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (14.01.2013)
Das Luzerner Theater verzettelt Giuseppe Verdis «La Traviata» in einer grotesken Scheinwelt. Umso mehr wird die Titelfigur zum Ereignis.
Für die grosse Liebe braucht es immer zwei. Und sie beweist sich umso mehr, wenn Gegensätze zusammenfinden wie in Giuseppe Verdis Oper «La Traviata». Da hat die Liebe zwischen der Nobelkurtisane Violetta und Alfredo aus gesellschaftlichen Gründen keine Chance: Alfredos Vater drängt Violetta, der Familienehre zuliebe auf seinen Sohn zu verzichten. Ihre Flucht aus dem gemeinsamen Landidyll verletzt den Geliebten so, dass Liebe in Hass umschlägt: Erst am Sterbebett der Schwindsüchtigen kommt es zur grossen Versöhnung.
Halbierte Liebe
Die Voraussetzungen, dass das Luzerner Theater damit einen glanzvollen Auftakt zum Verdi-Jahr bieten würde, waren günstig. Zum einen wurde für die Titelrolle eine Sängerin ins Ensemble geholt, die in Mozarts «Tito» als Entdeckung hervorstach. Zum andern wartete der Schweizer Regisseur Lorenzo Fioroni mit einem interessanten Konzept auf. Erläutert hatte er es am Freitag im Kunst- und Kulturzentrum Littau, das zu dieser Produktion eine Ausstellung zeigt: mit Hintergründen zur Oper, zum realen Vorbild der «Kameliendame», Bildern von Paris um 1850 und Kostümen früherer Inszenierungen in Luzern.
Da folgerte Fioroni aus der Tatsache, dass sich Violetta so schnell zum Verzicht auf ihre Liebe überreden lasse: Sie ist die Frau, die zu sehr liebt und erkennt, dass sich ihr Liebesideal ohnehin nicht leben lässt. Erst recht nicht mit einem «Muttersöhnchen» (Fioroni) wie diesem Alfredo. Damit aber geht es in der Inszenierung nicht mehr um die grosse, sondern um eine halbierte Liebe. Denn Alfredo ist bei Fioroni bloss Teil der erotischen Illusionsmaschinerie der Kurtisanenwelt. Und in ihr sind Gefühle so künstlich wie die prallen Brüste, mit denen Sabine Blickenstorfers Kostüme die Kurtisanen zu puppenhaften Objekten männlicher Begierde machen.
Damit setzt Fioroni seinen Ansatz bei den Hauptfiguren gefährlich konsequent um. Alfredo wird derart penetrant als Waschlappen gezeigt, für den die Liebe zur auswechselbaren Kurtisane bloss ein Spiel ist, dass die angestrebte tragische «Fallhöhe» gegen null tendiert. Das Umherschlurfen mit eingefallenen Schultern scheint den Tenor Carlo Jung-Heyk Cho sogar vom fast verschämt dargebotenen Trinklied an an der sängerischen Entfaltung zu hindern. Nur einmal darf er eindrücklich heldisches Format zeigen, wo er die vermeintlich verräterische Geliebte vor der Festgesellschaft als Hure auszahlt und demütigt.
Überragende «Traviata»
Das mag für sich stimmig sein: Auch wo die Liebe nicht echt ist, kann es die verletzte Eitelkeit sehr wohl sein. Aber damit fokussiert sich das eigentliche Gefühlsdrama auf eine einzige Person: die Violetta von Svetlana Doneva. Wie sie die Titelrolle singt und verkörpert, ist freilich grosse Klasse, die alles – den sektenhaft-strengen Vater Germont von Todd Boyce mit eingeschlossen – in den Schatten stellt. Selbst anfänglich angestrengt wirkende Spitzentöne passen zum schrillen Charakter, aus dem sich diese Traviata löst. Dann aber überwältigt die aus Bulgarien stammende Sopranistin ebenso mit entspannt strömendem grossem Ton wie einer bis ins Pianissimo hinein atemberaubend gestalteten Intensität: ein Ereignis.
Akzentuiert wird diese Vermenschlichung einer Kunstfigur zum einen durch die musikalische Gestaltung durch das Luzerner Sinfonieorchester unter James Gaffigan, das in den Chorszenen aggressiv auftrumpft und doch viele kammermusikalische Feinheiten zeigt. Zum anderen durch die Inszenierung selbst. Das beginnt beim brutalen Realismus, wenn Violetta im Vergnügungskarussell – ein raffinierter Einsatz von Werner Hutterlis Drehbühne – im Hinterzimmer Blut in Plastikeimer spuckt und kraftlos auf den Boden knallt. Und es endet damit, dass sie schnörkellos in Pullover und Jeans stirbt. Authentischer kann man sich die Traviata kaum vorstellen als in diesem Gegensatz zur verschrobenen Gesellschaftsgroteske.
Dass die Traviata zuvor zuschauen muss, wie ihre Nachfolgerin in dieser Triumpfe feiert, ist ein starker Regie-Moment: Die letzte Gesellschaftsszene ist bis ins Detail dem Fest aus dem ersten Akt nachgebildet. Die Geschichte wiederholt sich und geht immer weiter. Auch dafür gab es langen, allerdings nicht stürmischen Applaus.