Viele Inszenierungsideen und ein Fehltritt

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (15.01.2013)

La Traviata, 12.01.2013, Luzern

Mit «La Traviata» hat das Luzerner Theater am Samstag das Verdi-Jahr würdig eingeläutet. Dies dank einem hervorragenden Solisten-Trio, einem souveränen Dirigenten und einem ideenreichen, wenn auch etwas überambitionierten Regisseur.

Feste feiert die Pariser Gesellschaft gerne: Tanz und Spiel, Wein und Gesang, Maskierungen und vor allem der zielsichere Griff an die (künstlich aufgeblähten) erotischen weiblichen Körperteile sind die Ingredienzen grossbürgerlicher Vergnügungen. Der Tessiner Regisseur Lorenzo Fioroni weiss und zeigt, dass das auch heute nicht anders ist. So treffen wir denn die Herren im Frack, die sich gerne über den Aussenseiter Alfredo Germont lustig machen, mit vereinten Kräften eine Champagnerflasche zu öffnen versuchend, jeden erreichbaren Busen begrapschend oder gleich unter dem Tisch zur Sache kommend.

Es gibt zwei solcher Feste in Giuseppe Verdis «La Traviata», und Fioroni inszeniert sie exakt gleich. Beim zweiten Mal aber trägt Violetta Valéry, die Königin der Kurtisanen, nicht goldglänzende Pailletten, sondern Jeans und Pulli und sitzt beobachtend am Rand.

Zarte Glastöne, nervende Splitter

Das war die wohl folgenreichste und für die Entwicklung der Titelfigur sinnfälligste Inszenierungsidee Fioronis – und bei Weitem nicht die einzige. Glas spielt eine zentrale Rolle, so etwa ein Cüpli-Turm, den ein um Balance bemühter Kellner zu den Festklängen der Ouvertüre über die Drehbühne balanciert. Die zerbrochenen Überreste dekorieren auch das finale Bild, mit dem unerwünschten Nebeneffekt, dass niemand auf der Bühne es vermeiden kann, in den splitternden und knirschenden Scherben herumzutapsen.

Dafür stimmen zarte Glasharfentöne das Liebesmotiv im letzten Akt an. Die Fasnacht spielt – natürlich in Luzern – eine wichtige Rolle, wobei die kistenweise angeschleppten Bestände aus dem Kostümfundus ihren tieferen Sinn für sich behalten.

Fast jede Figur auf der Bühne erhält individuelle Züge, Gesten oder Schritte von der Regie zugewiesen, was oft zur Karikierung der gesellschaftlichen Verhaltensweisen benutzt wird, manchmal aber auch recht aufgesetzt und bemüht originell wirkt. Fioroni lässt keine Gelegenheit aus, witzige und ironische Momente auszukosten, was meistens recht unterhaltsam ist und dem Stück und Verdis Musik auch gerecht wird.

Nicht immer allerdings: Die schlimmste Entgleisung ist Violettas Abschiedsgesang «Addio del passato», den sie hier entgegen der Partitur kichernd mit der Dienerin Annina teilt, worüber man wirklich nur den Kopf schütteln kann: Wenn es irgendwo in diesem Stück sicher keine mehrschichtige oder gar ironische Bedeutungskomponente gibt, dann hier.

Gaffigan beherrscht Opern-Genre

Das Ensemble setzte sich vorbehaltlos und engagiert für Fioronis Ideen ein, und auch musikalisch blieben kaum Wünsche offen: Am Pult des Luzerner Sinfonieorchesters stand dessen US-Chefdirigent James Gaffigan. Oper dirigiert er zwar selten, aber das war in keinem Moment zu hören. Im Gegenteil: Die Vertrautheit mit den Orchestermusikern führte zu einer sehr hohen Präzision und Prägnanz, einer dynamischen und rhythmischen Disziplin, die man gerne öfters hören würde. Auch die Koordination mit der Bühne gelang ihm mühelos, und seine rhythmisch prägnante, in den Tempi stringente, in der Lautstärke aber meist vorbildlich zurückhaltende Gangart führten zu einem Verdi-Klangbild, das nicht nur der Partitur in vollem Umfang gerecht wurde, sondern auch den Sängern alle Gestaltungsvarianten öffnete.

Ausgekostete Freiheiten

Diese Möglichkeiten nutzten sie: US-Bariton Todd Boyce zeigte als Giorgio Germont alle Facetten dieser Figur mit seiner runden, agilen Stimme. So auch der Koreaner Carlo Jung-Heyk Cho als Alfredo, der tragische Liebhaber Violettas. Beeindruckend, wie er immer wieder seinen Piano-Tenor aufblühen liess und die Strahlkraft seiner warmen Stimme dosiert, dafür umso bewegender einsetzte. Bei Svetlana Doneva in der Titelrolle gefielen ebenfalls die zarten, immer wieder eingestreuten Piano-Töne. Energie und Strahlkraft hatte ihr Forte, nur das Timbre wurde dabei etwas scharf, und das Vibrato wirkte bisweilen unkontrolliert. Aber ihrer Figur gab die Bulgarin, gepaart mit einer schauspielerisch fulminanten Leistung, starke Präsenz und eine Intensität, die nie zu wünschen übrig liess.