Mantua ist überall

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (05.02.2013)

Rigoletto, 03.02.2013, Zürich

Mit ihrer dichten, ganz aus den Figuren entwickelten Inszenierung wirft Tatjana Gürbaca ein neues Licht auf Verdis «Rigoletto»


Die «Rigoletto»-Inszenierung von 2002 war eine der beliebtesten und meistgespielten Produktionen der Ära Pereira: dekorativ, konventionell in der Personenzeichnung, untrennbar verbunden mit den Altmeistern Nello Santi am Dirigentenpult und Leo Nucci in der Titelrolle. Das alles ist jetzt anders geworden – doch nicht zum Schaden des Werkes, wenn man denn bereit ist, sich auf die Lesart der erstmals am Zürcher Opernhaus wirkenden Regisseurin Tatjana Gürbaca einzulassen. Den Festsaal im Palast des Herzogs von Mantua, das Haus seines Hofnarren Rigoletto, die Spelunke am Ufer des Mincio gibt es nicht mehr. Gürbaca und ihr Bühnenbildner Klaus Grünberg reduzieren die Schauplätze auf einen einzigen Ort, die Bühne selbst wird zur Szene, schwarz ausgekleidet und dominiert von einem riesigen Konferenztisch, auf dem ein weisses Tuch liegt.

Die Männergesellschaft und ihre Opfer

So sieht ein heutiges Machtzentrum aus. Doch die Macht ist verwaist, der Herzog – in Victor Hugos Schauspiel, das Verdi als Vorlage diente, ist es ein König – amüsiert sich lieber, als zu regieren, stellt schönen Frauen nach und überlässt das Wort seinem Hofnarren Rigoletto. Dieser, nicht körperlich, sondern seelisch verkrüppelt, macht davon exzessiven Gebrauch, derweil die Höflinge in hektischer Ziellosigkeit um den Tisch rotieren und sich bald gegen den einen, bald gegen den anderen zusammenrotten. Gürbaca zeigt hier mit einem sängerisch wie darstellerisch hoch motivierten Chor (Leitung Ernst Raffelsberger) das Funktionieren einer reinen Männergesellschaft, deren Aggressionspotenzial beim Erscheinen einer Frau, der vom Herzog verführten Gräfin Ceprano, ausser Kontrolle zu geraten droht.

Gilda, Rigolettos Tochter, verkörpert eine Gegenwelt, eine Welt der Gefühle, der Freude, der Liebe. Und sie ist jene Gestalt, die sich über die drei Akte hin am meisten entwickelt. Trotz ihrem Girly-Look – im Gegensatz zu den Männern tragen die Frauen bunte Kostüme (Silke Willrett) – müsste ihr Vater gewarnt sein: Die Heranwachsende stellt Fragen, will aus dem häuslichen Gefängnis ausbrechen, die Stadt erkunden, und auf die Gouvernante Giovanna, eine junge Schlampe, ist kein Verlass. Der Herzog, der die Kleider wechselt wie die Frauen und Gilda als Schüler kostümiert aufsucht, hat leichtes Spiel. Doch im Duett mit ihr wird auch er ein anderer. Es ist ein der Wirklichkeit enthobener, utopischer Moment, in welchem nicht nur die Stimmen, sondern auch die Körper der beiden jungen Menschen zu schweben scheinen. Immer noch traumverloren, lässt sich Gilda zunächst widerstandslos entführen. Und auch die Nacht, die sie dann mit dem Herzog verbringt, ist für sie kein traumatisches Erlebnis – da hört Gürbaca bei ihrer Interpretation sehr genau auf die Musik. Die Unbedingtheit von Gildas Liebe erklärt schliesslich auch, weshalb sie sich trotz der eklatanten Untreue des Herzogs für ihn opfert.

Ganz auf die Figuren und deren soziale Bedingtheit fokussiert, bei offener Bühne Szene an Szene fügend, erzählt die Regisseurin die Handlung, ohne Zugeständnisse an die Konvention, dabei in jedem Moment detailgenau und nachvollziehbar, selbst in der gern als Beispiel für die Absurdität der Gattung Oper angeführten Schlussszene der ermordeten Gilda, die in ihrem Sack nochmals zum Leben erwacht und sich in langen Kantilenen verströmt. Hier hält Rigoletto ein Double im Arm, während die singende Gilda zur Projektion seiner Innenwelt wird. Die im Hintergrund versammelten Höflinge mit ihren Spielzeugkronen erinnern daran, dass zwischen Gildas Tod und dieser degenerierten Männergesellschaft ein Zusammenhang besteht.

Ein neues, junges Protagonistentrio setzt die Intentionen der Regisseurin darstellerisch wie stimmlich mit Hingabe um. Der im Ansatz leichte, bewegliche Sopran von Aleksandra Kurzak gewinnt parallel zu Gildas Entwicklung vom Kind zur Frau zunehmend an Wärme und Ausdruckskraft und füllt auch die virtuosen Koloraturen mit Sinngehalt. Saimir Pirgu wartet als Herzog mit einem strahlkräftigen, höhensicheren Tenor auf, steuert jedoch zu schnell den Forte-Bereich an und singt mit so viel Druck, dass die Stimme wenig Schmelz entfaltet. Am weitesten emanzipiert sich Quinn Kelsey vom gängigen Rollenbild: ein junger Rigoletto mit massigem Körper, bedrohlich in seiner Gewaltbereitschaft, obsessiv in seiner Vaterliebe. Nicht allein sein Gesicht, auch seine Stimme zeichnet den stetigen Wechsel der Emotionen faszinierend nach. Es ist ein voluminöser Bariton von grosser Expressivität, in der Tongebung manchmal etwas unstabil und klanglich verschattet, doch mit einer breiten Farbpalette. Das weitere Ensemble vereint bewährte Solisten wie Judith Schmid als Maddalena, Valeriy Murga als Monterone und Cheyne Davidson als Marullo mit überzeugenden neuen Kräften: Christof Fischesser als Sparafucile, Julia Riley als Giovanna, Dmitry Ivanchey als Borsa und Yuriy Tsiple als Conte Ceprano.

Herausforderung für das Publikum

Am Dirigentenpult steht bei dieser ersten Verdi-Premiere der Intendanz Homoki der neue Chefdirigent des Hauses, Fabio Luisi. Seine Interpretation unterstreicht die szenische Lesart, ohne jedoch ein scharfes Eigenprofil zu entwickeln. Schnelle, für einzelne Sänger etwas zu schnelle Tempi, ein transparenter Klang, der sich in kommenden Aufführungen wohl noch verfeinern lässt, vor allem aber Sinn für dramatische Stringenz sind die Kennzeichen der musikalischen Wiedergabe. Das Opernhaus hat mit diesem Beitrag zum Verdi-Jahr Mut bewiesen. Es ist schwieriger, dem Publikum ein beliebtes Repertoirestück in radikal neuer Lesart zu präsentieren als ein wenig bekanntes Werk. Und es braucht grosses Können, eine Oper, die man in opulenten Ausstattungen zu sehen gewohnt ist, so konsequent auf das Drama der handelnden Personen zu reduzieren. Doch das Premierenpublikum hat die Herausforderung angenommen und nach zweieinhalb spannenden Stunden nicht nur dem Sängerensemble, sondern zum überwiegenden Teil auch dem Regieteam nachhaltig applaudiert.