Basel-Mulhouse wird zum Schauplatz eines Liebesdramas

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (09.02.2013)

Manon, 07.02.2013, Basel

Nicht Verdi, nicht Wagner: Dank einer exakten, handwerklich brillanten Personenführung von Elmar Goerden und einer überragenden Maya Boog in der Titelrolle ist Jules Massenets Oper «Manon» am Donnerstag auf dem Basler Flughafen gelandet.

Nicht die Postkutschenstation in Amiens, sondern der Euro-Airport Basel-Mulhouse empfängt uns, wenn der Vorhang aufgeht: Monitore mit Flugplänen, ein Verpflegungsautomat, der nicht funktioniert, ein Apparat für Passfotos, in dem der Kapitän vor dem Abflug schnell die Stewardess vögelt. Der Wirt ist mit dem Desinfektionsgerät unterwegs, Manons Cousin ein waffennärrischer Sicherheitsbeamter, der Chevalier Des Grieux ein staubbedeckter Tramper und Manon selbst kommt im Girlie-Outfit mit Seesack aus der Passkontrolle und scheint bereits einige Erfolge als Fotomodell hinter sich zu haben.

Dass ein Mädchen von diesem Schlag sich allerdings von ihrer Familie in ein Kloster stecken lassen würde, nehmen wir dem Regisseur Elmar Goerden nicht ab. Sonst aber fast alles. Absolut erstaunlich, wie der deutsche Schauspielregisseur – dekoriert mit einigen Einladungen ans Berliner Theatertreffen – es schafft, die Manon-Geschichte in dieses heutige Flughafen-Ambiente zu verfrachten. Die Pariser Wohnung? Eine Check-in-Halle, wo sich gestrandete Passagiere häuslich eingerichtet haben, und wo man problemlos auch einen leeren Getränkeharass als Tischchen besingen kann.

Das Priesterseminar findet sich in der Flughafenkapelle, das Spielcasino in der Erstklass-Lounge und der Weg in die Deportation ist ein nüchterner Gang, wo sich die Sicherheitsleute mit der Gefangenen im orangen Guantánamo-Overall zum Erinnerungsfoto versammeln. Klar auch, dass Manon schliesslich nicht an der Cholera, sondern an den Folgen von Folter und Misshandlungen stirbt.

Mit voller Fantasie abstrahiert

Viele kleine Ideen und Scherze lockern zusätzlich das Geschehen auf: So werden zum Beispiel auf den notorischen Kartontäfelchen in der Ankunftshalle die beiden Librettisten Meilhac und Gille gesucht. Oder das Ballett wird aus dem Frachtraum in einem «zerbrechlich»-Käfig herangefahren, aus dem zwei Tänzer klettern, kostümiert wie Manon und der in sie verliebte reiche Geck Guillot. Oder die letzten verbliebenen Raucher, die sich in verqualmte Verrichtungsboxen drängen müssen. Selbst mit den nüchternen Hinweisschildern spielt das Bühnenbild von Silvia Merlo und Ulf Stengl: Da gibt es auch eine Krankenstation für gebrochene Herzen.

Goerden hält Fäden in der Hand

Dass die Inszenierung aber tatsächlich so gut funktioniert, liegt am überragenden Regie-Handwerk Goerdens. Egal ob Hauptperson, Statisten oder Chor: Jeder erhält seine genau austarierte Rolle mit den entsprechenden Bewegungsmustern. Das hat einen filmischen Realismus, den Goerden eisern durchhält bis hin zu Manons Tod, den er gerade in dieser nüchternen Umgebung zu einem grossen emotionalen Moment aufbauen kann.

Auch dank Maya Boog, die sich bekanntlich ohne jede Angst auf schauspielerische Herausforderungen einlässt, was unter der Anleitung eines solchen Regisseurs auch fulminant funktioniert. Ausserdem bewies Boog auch sängerisch grossen Mut: Schon ihr zartes Liebeslied im zweiten Akt war von berührender Schlichtheit gesungen, und je höher die Emotionen gesteigert werden, desto mehr Grenzbereiche des Singens setzte sie ein, von der fast geschrieenen Verzweiflung bis hin zur leisen Gebrochenheit, in der die Stimme auch wirklich brechen darf.

Neben dieser hinreissenden Manon hatten die anderen Protagonisten einen schweren Stand. Andrej Dunaev als Des Grieux versuchte zwar ähnlich vielschichtige Ausdrucksbereiche, aber sowohl die abgerundete Wärme im Piano wie die tenorale Strahlkraft im aufblühenden Forte liegen seiner Stimme nicht wirklich in der Kehle. Eugene Chan sang den Cousin mit mehr Format, ebenso Andrew Murphy den Vater Des Grieux, während Karl-Heinz Brandt als Guillot eher blass blieb.

Massenet ist für Delamboye ideal

Aus dem Orchestergraben kamen einnehmende Töne: Weit mehr als die mit Subtilität aufgeladene Musiksprache Leos Janáceks, die er zu Saisonbeginn in Basel meistern musste, liegt dem Dirigenten Enrico Delamboye offenbar die agogische und dynamische Beweglichkeit Jules Massenets, der bis hin zu schmachtender Rührseligkeit alle musikalischen Mittel einsetzt, ohne sie auszuwalzen.

Das Basler Sinfonieorchester hatte an der Premiere keine Mühe mit dieser gestenreichen, farbigen Musik, aber innerhalb der Register dürfte manche Linie noch erheblich präziser werden.