Eine ganz normale, verrückte Liebe?

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (09.02.2013)

Manon, 07.02.2013, Basel

«Manon» von Jules Massenet im Theater Basel

Nicht im spätbürgerlichen Salon, sondern auf einem Flughafen unserer Tage spielt Massenets «Manon» in Basel. Die Geschichte könnte von heute sein – wären da nicht Text und Musik.

Der eine ist Graf, der andere Ritter, der Dritte Bürger – aber ihre Erscheinung ist die jener ganz gewöhnlichen Menschen, deren Wege sich auf einem Flughafen kreuzen. So will es der Regisseur Elmar Goerden, der sich von Silvia Merlo und Ulf Stengl die entsprechenden Lokalitäten naturgetreu auf die Bühne hat bringen lassen und die Kostümbildnerin Lydia Kirchleitner um T-Shirts, abgeschnittene Jeans und Turnschuhe gebeten hat. Muss es sein? Ist diese Art Aktualisierung nicht grausam von gestern? In gewisser Weise nicht ebenso vergangen wie die handwerklich grandiose, raffiniert an der Grenze zum Kitsch operierende Musik, die sich Jules Massenet für seine Oper «Manon» hat einfallen lassen?

Auf der Suche nach sich selbst

In einem wilden Ausbruch des Selbsterhaltungstriebs versucht uns Goerden in dieser jüngsten Produktion des Theaters Basel glauben zu machen, dass «Manon» von heute sei. So beginnt die Geschichte von dem begüterten, in den Konventionen seiner Familie gefangenen jungen Mann, dem Chevalier Des Grieux, und der allzu lebenslustigen, von den Ihren darum zur Kur in ein Kloster verbannten jungen Frau, Manon Lescaut, in Terminal 1, wo Muslim auf Jude trifft, wo der defekte Getränkeautomat seine Tritte abbekommt und wo gewartet wird – vielleicht auf das grosse Glück. Zum Liebesfrühling des zweiten Akts kommt es nicht in einem Pariser Appartement, sondern vor den Check-in-Schaltern, vor denen, da widrige Umstände herrschen und alle Flüge gestrichen worden sind, die Reisenden kampieren, kopulieren und krepieren. So geht es weiter, bis am am Ende die aufgereihten Maschinen durch das hohe Fenster der Aussichtsterrasse glitzern. – Mit aller Liebe zum Detail ist das ausgemalt – doch entstehen gerade daraus die Probleme. Das Optische drängt sich derart in den Vordergrund der Wahrnehmung, dass für das musikalische Geschehen weitaus weniger, nämlich viel zu wenig Energie bleibt; Oper ist dann gut, wenn sich eine plausible, packende Balance zwischen den Ingredienzien der Gattung einstellt. Dazu kommen die ironisierenden Brechungen, die das Publikum auf Distanz halten und vor allzu starker Identifikation, ja möglicherweise einem Tränenausbruch bewahren sollen – sind sie tatsächlich am Platz? Natürlich, «Manon» ist eine Opéra comique, nur meint die Gattungsbezeichnung nicht, dass sich hier Komisches ereignet; sie bezieht sich allein darauf, dass es in diesem Stück auch gesprochene Dialoge gibt. Und vor der Musik Massenets muss man niemanden schützen, man darf im Gegenteil froh sein, wenn sie aufgeführt wird.

Zugute halten darf man der szenischen Interpretation, dass sie den Kern des Stücks freilegt und den Blick öffnet für die tieferen Schichten, die unter der rührseligen Aktion verborgen sind. Tatsächlich verbindet Manon und den jungen Des Grieux das elementare Bedürfnis, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, mithin aufzubrechen und auszubrechen in die Freiheit, wie es der Flughafen vorspiegelt. Manon als heimliche Schwester von Carmen und Lulu. Allein, trotz der durch den Duty-free-Shop in Szene gesetzten Verfügbarkeit der Waren und vielleicht auch des Lebens steht ein jeder immer wieder vor seinen eigenen, inneren Grenzen. Manon spürt das am deutlichsten, weshalb sie in Basel am Schluss nicht an psychischer Ermattung stirbt, sondern sich mitten im Duett mit Des Grieux die Pulsadern aufschneidet.

Erdacht ist das nicht schlecht, ausgeführt ist es mit etwas Überdruck, etwas Selbstverliebtheit und wenig musikalischem Sinn. Dazu passt das Spiel des Sinfonieorchesters Basel, das unter der Leitung von Enrico Delamboye die Partitur Massenets kantig klingen lässt. Gewiss darf und soll das Orchester bisweilen aufrauschen, aber in Attacke und Aplomb unterscheidet sich ein französisch gedachtes Tutti doch merklich von einem deutschen. Am besten wirkt Massenets Musik, wenn sie zartgliedrig, farbenreich und transparent daherkommt; von all dem ist an diesem Abend wenig zu hören. Und das trotz interessanten Ansätzen wie den unter den rezitativischen Passagen liegenden Streicherakkorden, die ohne Vibrato gespielt werden.

Sängerprobleme

Die musikalischen Probleme setzen sich im Vokalen fort. Paradoxerweise sind es die Vertreter der herrschenden Ordnung, die am besten wirken. Als Comte Des Grieux, als strenger Vater, der an seinem Sohne scheitert, ist Andrew Murphy mit seinem kernigen Bariton eine überragende Erscheinung. Und in ähnlicher Weise beherrscht Eugene Chan als Lescaut, der seiner leichtlebigen Cousine auf die Finger zu schauen hätte, sich dann aber auf ihre Seite schlägt, die Szene. Die ihm umgehängte automatische Waffe wäre da keineswegs vonnöten gewesen; sie ist eines jener Elemente, die zu viel sind in der Inszenierung, die von mangelndem Vertrauen des Regisseurs in die Darsteller, vor allem aber in die Musik zeugen. Schwerer hat es Andrej Dunaev als der junge Chevalier Des Grieux; die Höhe seiner Partie meistert er tadellos, aber das schnelle Vibrato und die mangelhafte Diktion stören. Eine Fehlbesetzung schliesslich Maya Boog in der Titelpartie. So sehr ihre Erscheinung den Intentionen des Regisseurs entspricht, stimmlich ist sie dieser Rolle nicht gewachsen; es fehlt an Volumen in der Bruststimme und an Obertönen in den höheren Lagen – und vor dem grobkörnigen Klang des Orchesters konnte sie nur in die Knie gehen.