Das Leben als ewiger Wartesaal

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (09.02.2013)

Manon, 07.02.2013, Basel

Das Theater Basel zeigt eine Massenet-«Manon» mit erstaunlichen Spielorten

Es ist schon ein Kreuz mit der Oper: Da mühen sich Regisseurinnen und Regisseure landauf, landab um neue Lesarten und ungewohnte Sichtweisen der alten Stücke, und am Ende sterben die «Femmes fatales» und die «Femmes fragiles» doch den immer gleichen traurigen Operntod. So auch Manon Lescaut in der Vertonung von Jules Massenet am Theater Basel – eine Oper, die hier zuletzt 1984 in der Regie von Jean-Claude Auvray zu sehen war und die ihre Wirkung auf die Tränendrüsen selten verfehlt.

Jetzt hat Elmar Goerden (ihm verdankte man bereits einen sehr stimmigen «Wozzeck») das Rührstück um die verhinderte Nonne und bald treue, bald untreue Liebende Manon auf die grosse Basler Bühne gebracht, und man hat wieder dieses im tiefsten Grunde wohlige Gefühl, dass die grossen Opernstoffe durch nichts kleinzukriegen sind. Der Schlussapplaus ohne Buhs nach fast drei Stunden Spieldauer dokumentierte die Aufgeschlossenheit des Basler Premierenpublikums, das auch unkonventionelle Inszenierungen goutiert, sofern sie den Stücken nicht Gewalt antun.

Multikulturell und multireligiös

Elmar Goerden und seine Bühnenbildner Silvia Merlo und Ulf Stengl ­gehen frei mit den Spielorten um und riskieren manche Schere zwischen dem gesungenen Text und dem gesehenen Bild. Doch treffen sie damit in oft erstaunlicher Präzision den Gehalt des Stücks. So spielt bei ihnen die erste ­Szene in der Ankunftshalle eines Flughafens. Die Kutsche des Original-Lib­rettos ist durch modernere Fortbewegungsmittel ersetzt, der Hotelier durch einen Reinigungsmann. Gegessen wird aus dem Automaten, und die Fluggäste sind das reisende multikulturelle, multireligiöse Volk von heute.

In diese Situation platzt eine Reisende, die in allem anders ist: Manon, ein Girl mit kurzen Jeanshosen und schulterfreiem Hemdchen, das am liebsten barfuss geht und eigentlich für ein ­stilles Leben im Kloster vorgesehen ist. Nach der Begegnung mit dem Chevalier Des Grieux schlägt sie den Pfad der ­Liebe, später auch der käuflichen Liebe, ein. Im zweiten Akt sehen wir sie als ­Lebenspartnerin des Chevaliers, aber dies nicht in einer Pariser Wohnung, sondern immer noch auf dem Flug­hafen, der von schlafenden Passagieren bevölkert ist. Die Textworte «Endlich sind wir allein» von Manon und Des Grieux sind relativ zu nehmen – die beiden Liebenden sind allein wach inmitten einer Schar Touristen, die sich vielleicht wegen eines Fluglotsenstreiks schlafen gelegt haben und warten.

Im dritten Akt ist Manon schon nicht mehr mit Des Grieux – hier mehr alternativer Rucksacktourist als wohlhabender Adliger – zusammen, der im Auftrag ihres neuen Partners zusammengeschlagen worden ist und als Abbé die fromme Einkehr in einem Kloster sucht. Das Weihwasser verteilt er sinnigerweise aus einer PET-Flasche an die betenden Frauen in der Flughafenkapelle.

Der neue Mann an Manons Seite, de Brétigny, ist situationsgerecht als Pilot dargestellt. Manon aber kehrt zu ihrem ersten Liebhaber zurück, treibt ihm die geistlichen Flausen aus und flieht mit ihm in eine dubiose Welt der Geldspieler. Von der ewigen Flucht zermürbt, haucht sie – ihren Namen auf den ­Lippen – auf der Strasse nach Le Havre (hier: in der Wartehalle des Flughafens) ihr junges Leben aus.

Die ­vielleicht schönste und wahrste Charakterisierung für Manon stammt vom Schriftsteller Heinrich Mann: Sie sei «die Frau in ihrer Höchstwirkung auf den Mann». Und Des Grieux gehöre zum «Geschlecht der unbeirrbaren Lieb­haber, die nie zur Besinnung kommen». Das legt die Messlatte für die Sänger-Darsteller hoch – und sie gewinnen den Wettkampf weitgehend.

Höhenlinien und Mittellage

Andrej Dunaev ist in der Basler ­Produktion dieser Unbeirrbare, und wie der russische Tenor mit den Anforderungen seiner grossen Partie, insbesondere mit den ein strenges Legato fordernden Höhenlinien, umgeht, ist aller Bewunderung wert. Seine Arie im zweiten Bild des dritten Akts war ein ­herausragender, aber nicht der einzige musikalisch glückliche Moment des Abends und erntete Sonderapplaus.

Neben dieser Glanzbesetzung hat es die Lokalmatadorin Maya Boog in der Sopranpartie der Manon nicht leicht, das sängerische Niveau zu wahren. In der Premiere am Donnerstag vibrierte ihre Stimme anfänglich, dann verlor sich diese nervositätsbedingte Eigenart. Ihr gelangen zauberhafte Momente, in denen ihre leichte, bewegliche Stimme wunderbar zur Geltung kam wie in ­ihrer grossen g-Moll-Arie am Ende des zweiten Aktes («Adieu, notre petite table»). Im vierten Akt stiess ihre Stimme, die in der Mittellage etwas matt geworden ist, dynamisch an ihre Grenzen.

In der Baritonpartie von Manons Cousin Lescaut – hier ein bewaffneter Wachmann – glänzt Eugene Chan mit klarem Stimmprofil und sauberer Intonation. Ein komisches Schlaglicht setzt der Tenor Karl-Heinz Brandt in der ­Partie des reichen Gecken und Buhlers Guillot-Morfontaine. Ashley Prewett vom Opernstudio darf mit de Brétigny bereits eine veritable Opernpartie singen, und Andrew Murphy hat für die Rolle des Vaters Des Grieux seinen Bass auf «serioso» eingestellt.

Am Pult des Sinfonieorchesters ­Basel stand mit Enrico Delamboye ein Dirigent, der guten Kontakt zur Bühne pflegte und Balance zu halten wusste zwischen Sentimentalität und Sachlichkeit. Das in den Holzbläsern stellen­weise überforderte Orchester vermochte ihm oft, aber nicht immer zu folgen, der Theaterchor gab sich keine Blössen.