Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (09.02.2013)
Regisseur Elmar Goerden liest Massenets «Manon» am Theater Basel radikal von heute aus
Ein wenig verstört zeigte sich das Publikum zuerst am Schluss der Premiere von Jules Massenets Oper «Manon» am Theater Basel, bevor der Applaus aufbrandete. Massenets romantische Oper spielt auf einer Kutschenstation und in Paris, auf dem grossstädtischen Jahrmarkt der Eitelkeiten. Der Komponist und die Librettisten Henri Meilhac und Philippe Gille verlegten Abbé Prévosts Roman über Manons tragisch endende Amour fou, über ihren sozialen Aufstieg und Fall vom 18. ins späte 19.Jahrhundert.
Und Regisseur Elmar Goerden transferiert die Geschichte in unsere Zeit und lässt sie auf dem Flughafen spielen. Keinen Gasthof bestürmen die hungrigen Leute, sondern einen Selbstbedienungsautomaten. Nicht im Appartement feiern Manon und Des Grieux ihre kurzen Liebesfreuden; sie stranden mit anderen Reisenden in der Flughafenhalle. Das ist gewagt, frech, aber auch etwas einengend. Doch erschliesst sich das Konzept, wenn wir den real gestalteten Flughafen (Bühne: Silvia Merlo und Ulf Stengl) als allegorischen Ort lesen: Als Mikrokosmos einer globalen Gesellschaft, die – in Lauerstellung – aufs nächste Vergnügen, den nächsten Kick wartet, um die Gier zu stillen. Davon erzählt Massenets rastlose Musik.
Jede Figur ist genau gezeichnet
Der Abend funktioniert dank Goerdens Personenregie. Er zeichnet jede Figur in dieser Grand Opéra detailgenau. Vielschichtig spinnt er die Beziehungsgeflechte. Das gesamte spielfreudige Ensemble trägt mit. Karl-Heinz Brandt ist die wunderbare Figur des gealterten Playboys Guillot, Ashley Prewett ist als Flugkapitän ein korrupter De Brétigny, der glaubt, Manon kaufen zu können. Andrea Suter, Lilia Tripodi und Rita Ahonen geben drei lüsterne Stewardessen. Eugene Chan mimt Manons Cousin Lescaut als zwielichtigen Polizisten. Virtuos setzt Goerden den stark singenden Theaterchor in Szene, und er findet eine doppelbödige Lösung fürs Ballett im dritten Akt.
In diese kalte Kommerzwelt kommt – beladen nicht nur mit dem Reisesack, sondern spürbar auch mit Einsamkeit – Manon, das Mädchen vom Land, das ins Kloster soll, weil seine Eltern mit ihm nicht zurande kommen. Göre und verunsichertes Kind zugleich. Sehnsüchtig blickt sie auf den Glanz des Reichtums, der sich hier präsentiert. Noch ein Einsamer stolpert daher, Des Grieux, auf seinem Trampertrip. Auch er kein Mustersohn; einer aber, der den reichen diktatorischen Vater fürchtet. Manons und Des Grieux’ Blicke treffen sich, die Liebe schlägt ein wie ein Blitz. Goerden schafft mit seinen beiden grossartigen Darstellern Maya Boog und Andrej Dunaev einen magischen Moment. Liebesleidenschaft dringt ein in die Welt, in der sie gar keinen Platz hat. Goerden bricht denn auch die Hoffnung auf währendes Liebesglück: Gewitzt setzt er Manons gleichzeitige Sehnsucht nach Glamour ins Bild. Eine grosse Reklametafel erscheint, sie wirbt mit dem Konterfei der nackten Manon für das Parfüm «Jeunesse».
Echt und berührend lebt Maya Boog als Manon den Widerspruch zwischen grosser Liebe und Sehnsucht nach Luxus; die innere Zerrissenheit dieser Frau, die sich nie domestizieren lässt. Mal erzählt ihre Stimme von Berechnung, dann wieder von verzehrender Liebessehnsucht. Andrej Dunaev ist ein idealer Des Grieux mit schönem tenoralem Schmelz. Er ist der Träumer, der sich ganz in seinen Gefühlen verliert.
Vater Des Grieux – von Andrew Murphy mit markantem Bariton herrisch gestaltet – trennt die beiden. Manon flieht in den Luxus, der in der Liebe Verratene ins Kloster. Wie geht das auf dem Flughafen? Goerden führt uns Menschen im Warteraum vor, die mit ein wenig Mystik ihre Seele wärmen. Des Grieux ist hier nicht im Kloster, sondern wiederum in Warteposition. Manon holt ihn zurück ins Leben, in die Welt, die beide stürzen lässt.
Auch musikalische Zuspitzung
Goerden stellt die Verlorenheit der beiden Liebenden in eine bitterböse Satire einer nur noch gierigen Gesellschaft und spitzt damit die Opéra comique zu. Hier trifft er sich mit dem Dirigenten Enrico Delamboye, der die Klänge schärft. Die rastlose Festmusik, die peitschenden Rhythmen reiben sich direkt an der ergreifenden, tieftraurigen Liebesmusik. Dieses Miteinander von aufwühlender Emotionalität und klanglicher Härte, die das Sinfonieorchester Basel packend umsetzt, gibt Massenets Musik grosse Spannung.