Oliver Meier, Berner Zeitung (29.01.2013)
Wo der kranke Kleingeist regiert: Konzert Theater Bern verlegt Verdis «Macbeth» vom Mittelalter in die Moderne. Eine kluge Produktion, die auch musikalisch meist überzeugt. Sie unterläuft das Erhabene und erzählt von der Lächerlichkeit der Bösen.
«Kinder, bitte aufräumen!», möchte man rufen. Doch ach, da scheint nichts mehr zu retten. Mitten im Schlachtfeld aus bunten Kuscheltieren und grauen Spielzeuggewehren liegt ein Mann im Sterben. Und dieser Mann heisst Macbeth (Robin Adams). Das Blut rinnt dem Mörderkönig von Schottland aus dem Magen. Der Atem reicht noch knapp, um die «erbärmliche Krone» zu verfluchen, für die er über Leichen ging. Und die «Prophezeiungen der Hölle», denen er vertraute. Der sterbende Macbeth auf der Bühne: Shakespeare zeigt das nicht. Und auch Verdi hat in der revidierten Fassung seiner ersten Shakespeare-Oper (die heute meist geboten wird) darauf verzichtet. Gastregisseur Ludger Engels indes demonstriert das Ende dieses Mannes, lässt ihm gar das letzte Wort. Es ist die letzte Konsequenz seiner Berner Inszenierung, die sich ganz der Privattragödie des Ehepaars Macbeth verschreibt und die politisch-gesellschaftliche Dimension des grossen Dramas ebenso aussen vor lässt wie das Erhabene und Mysteriöse.
Fünfzigerjahre-Setting
Kein Mittelalter-Schottland ist da zu sehen, keine archaische Schauerromantik. Ludger Engels und Bühnenbildner Ric Schachtebeck verlegen den Klassiker reichlich gewagt in ein Fünfzigerjahre-Setting. Das Einheitsbühnenbild zeigt die seelenlose Sauberkeit eines Machtzentrums, das nichts zu verstecken scheint. Glaselemente teilen die Bühne in eine Sofazone, einen Aussenraum und einen Kubus, halb Schlafzimmer, halb Seelensphäre. Die Raumgestaltung ermöglicht es, Szenen parallel zu erzählen und Verdecktes ans Licht zu holen. Und Engels, Chefregisseur am Theater Aachen, macht davon reichlich Gebrauch. Mehr noch: Die nüchterne Enthüllung wird zum Grundprinzip seines «Macbeth», angelegt als psychologische Fallstudie der Protagonisten.
Macbeths Meuchelmord am (nicht gerade staatstragend gezeichneten) König Duncan spielt sich im klinischen Licht ab, ebenso die blutvolle Beseitigung Banquos (Pavel Shmulevich). Vor allem aber legt die Regie den wunden Punkt der Hauptfiguren offen – die Kinderlosigkeit des Ehepaars Macbeth. Zwar ist das Thema in der Shakespeare-Forschung fast schon ein Gemeinplatz. Und Engels ist gewiss nicht der erste Regisseur, der die «Macbeth»-Studie von Sigmund Freud gelesen hat. In Bern jedoch wird das Trauma der Kinderlosigkeit zum Leitfaden der Inszenierung – und zum Ausgangspunkt von Gewaltakten, die vor allem eines sind: krankhaft. Die Hexenhorde wird dabei zum Spiegel des Traumas. Der Chor – von Verdi als «dritte Hauptrolle» konzipiert und von Zsolt Czetner mustergültig einstudiert – trägt bald Puppenmasken, bald ausgehöhlte Teddybären auf dem Kopf.
Shakespeare-Zitate
Engels setzt sein Regiekonzept stringent und überraschend geschmeidig um. Das gilt auch für die eingefügten Originalzitate von Shakespeare. Sie klingen (vorgetragen durch den gebürtigen Engländer Robin Adams) nicht nur wie ein archaisches Raunen. Sie geben dem Stück auch ein wenig von jener Tiefenschärfe zurück, die bei Verdis dramatischer Verdichtung auf der Strecke geblieben ist. Trotzdem ist dieser Berner Macbeth letztlich alles andere als eine tragende Figur. Das liegt zum einen an der Regie, die das Banale, ja Lächerliche des Bösen betont und dafür einen Anticharismatiker braucht. Das liegt aber auch an Robin Adams selbst, dem das schauspielerische Vokabular fehlt, um einen vielschichtigen Macbeth in seiner Entwicklung auf die Bühne zu bringen. Als Sänger indes wirkt der Publikumsliebling in seiner ersten Verdi-Hauptrolle allemal überzeugend: Adams nutzt seinen lyrischen Bariton für eine Gestaltung, die sich eher am Deklamieren als an der grossen Linie orientiert. Und er nimmt dabei Verdis Kunst des Leisen, ausgedrückt in den auffallend vielen Piano-Vermerken der Partitur, so ernst wie wenig andere. Und die Lady Macbeth? Fabienne Jost, Mitglied im Ensemble von Konzert Theater Bern, zeigt sie ohne monströse Dämonie, als ausnehmend steife, ja verdruckste Gattin, die um jeden Preis die Fassade zu wahren versucht, bis sie im vierten Akt gewissermassen implodiert. In der berühmten Nachtwandlerszene erscheint sie als jämmerlich-groteske Gestalt. Und nicht nur hier beweist die Sopranistin in ihrer halsbrecherischen Partie Mut zur Hässlichkeit, zeigt jene schiefen, bodenlosen Töne, die Verdi der Protagonistin abforderte. Damit ragt Fabienne Jost aus dem insgesamt soliden Berner Ensemble heraus, das Verdis Musikdrama löblicherweise nicht zur (allzu) üblichen Schreiorgie verkommen lässt.
Mal knallig, mal fein
Srboljub Dinić am Pult des Berner Symphonieorchesters zeigt nicht das analytische, auf trennscharfe Klarheit ausgerichtete Dirigat, das die Inszenierung eigentlich nahelegen würde. Und zwischendurch – vor allem im zweiten Akt – gehen Dinićs Tempi arg in die Breite. Doch insgesamt überzeugt auch das Orchester mit seinem sinnlich-gesanglichen Zugriff. Dinić scheut das knallige Forte nicht, zeigt aber auch viel Sinn für Verdis Piano-Kultur, besonders eindrücklich in der Mordszene des ersten Akts, die zugleich das ganze Elend dieser katastrophischen Ehe vor Augen (und Ohren) führt. Dieser «Macbeth» ist künstlerische zwar keine Offenbarung. Aber doch eine kluge Produktion, die ebenso wie «Fidelio» beweist, was in Bern trotz knapper Mittel möglich ist: Musiktheater auf der Höhe der Zeit.