Michelle Ziegler, Neue Zürcher Zeitung (28.05.2013)
Mozarts «Don Giovanni» im Opernhaus Zürich
Was bedeutet «Don Giovanni» heute? Die Antwort, die Sebastian Baumgarten am Opernhaus Zürich gibt, gerät wenig aussagekräftig. Für Essenz und Farbe sorgt in dieser Produktion hingegen ein hochkarätiges Sängerensemble.
Don Giovanni und die Gesellschaft: Sie können nicht versöhnt sein. Einen Libertin und Frauenhelden, der sich in seinem masslosen Benehmen nicht an die gesellschaftlichen Regeln und Gesetze halten will, gilt es ungesäumt zu bestrafen. So führen es die Don-Juan-Sagen im frühen 17. Jahrhundert vor, die in Opern, Balletten und Dramen wie etwa Tirso da Molinas «El burlador de Sevilla y convidado de piedra» Verbreitung fanden. Ein tragisches Schicksal erfährt Don Juan auch in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni» – und dennoch ist nicht zu bestreiten, dass der Komponist gewisse Sympathien für den Freigeist hegte. Sie legen nahe, Mozarts Don Giovanni als einen Unverstandenen zu sehen in einem rigorosen System an Leitplanken, das eine Gesellschaft als ein Miteinander von Individuen zusammenzuhalten hat. Sebastian Baumgarten geht in seiner Inszenierung für das Opernhaus Zürich noch einen Schritt weiter. Er stellt Don Giovanni als einen Lebemann dar, der unseren Tagen entstammen könnte. Wie der heutige Mensch plant er sein Leben kurzfristig und lässt sich von seinen Bedürfnissen jeweils dorthin treiben, wo er Aufmerksamkeit findet.
Aufgesetzter Rahmen
Um die Friktionen zwischen diesem gesellschaftlich akzeptierten Freigeist und seiner Umgebung zu akzentuieren, hat der deutsche Regisseur nach einem geeigneten moralischen Gegenbild gesucht. Gefunden hat er es in einer kirchlichen Institution. Er passt die Geschichte in den Raum einer Freikirche ein, um sie dort als didaktisches Schauspiel der kirchlichen Theatertruppe – quasi als Theater im Theater – darzustellen. Wie Masetto gehört Zerlina als Mitglied dieser Theatertruppe einer «strengen religiösen Sekte» an, aus deren engen Fesseln sie ausbrechen möchte, indem sie sich auf Don Giovanni einlässt. Die moralische Aburteilung wird auf Chris Kondeks Videoprojektionen nach der Art kirchlicher Riten durchgeführt: Übergrosse Hände – Gottes? – verurteilen nicht nur die Laster Don Giovannis, sondern auch jene der anderen Darsteller, den Zorn Donna Elviras, die Rache Donna Annas oder den Neid Leporellos – also jene Todsünden, die von Papst Gregor I. im Jahr 1215 zur Grundlage der Beichte erklärt wurden.
Das kirchliche Umfeld bietet Baumgarten willkommene Anregung. Er belädt die Drehbühne von Barbara Ehnes mit passendem Mobiliar: mit einem Beichtstuhl, mit Heiligenstatuen und samtüberzogenen Sesseln. Der Generalbass wird von einem Priester und einer Assistentin in Kirchengewändern mit Cello, Cembalo und Orgel gleich auf der Bühne gegeben und dabei oft so verzerrt, dass die Rezitative sich jeweils mehr oder weniger aus dem musikalischen Geschehen lösen – ein origineller Effekt. Die Kirchenausstattung trifft auf den Prunk aus Don Giovannis Welt: pompöse Waschbecken und Badewannen und ein fürstliches Bankett.
Dieses Ambiente bietet das passende Zwischenreich für Don Giovanni, den Helden der Gemächer, Gärten und Vorplätze, der zunächst als Gorilla verkleidet auftritt, danach in schwarzem Gewand eine gefesselte Frau ersticht, um sich später in einen weiss geschminkten Pop-Star und in einen herrischen Gastgeber in Pink mit Hörnern zu verwandeln. Für die Theatertruppe bei Don Giovanni hat Tabea Braun unauffällige Anzüge und Röcke entworfen, für die drei Maskierten aufwendige Trachten-Kostüme, für Don Ottavio eine Uniform und für Donna Anna ein Deux-Pièces. Das ganze Kunterbunt führt zu starken Bildern, entbehrt als Lesart indes der Substanz wie der Stringenz. Die Figur Don Giovannis bleibt unangetastet und fremd, sein Wirken wird weder hinterfragt noch gedeutet. Zu roh sind die Denkansätze belassen, zu beliebig scheinen die Referenzen, zu blass ist die Interpretation. Im dicht beschriebenen Rezeptionskatalog dieses Werks hinterlässt Baumgarten damit keine Spuren.
Ermüdend hätte dies am Premierenabend vor allem im zweiten Akt wirken können – zumal Baumgarten auch zur mysteriösen Erscheinung des Komturs (Rafal Siwek) nichts Triftiges oder Ergreifendes eingefallen war –, hätten die Sänger nicht immer wieder zu fesseln vermocht. Peter Mattei hat die Rolle des Don Giovanni in seiner Erfahrung so weit reifen lassen, dass er Reserven hat, um die übermächtige Figur mit der nötigen Gelassenheit zu spielen; seine Champagner-Arie im äusserst schnellen Tempo zeigt keine Spannungslücken. Mit Ruben Drole steht ihm ein herrlich tollpatschiger und doch verschlagener Leporello zur Seite, der die dramatischen Akzente stimmlich bewusst setzt. Drei sehr unterschiedliche Damen zeigen sich über Don Giovannis Verführung wahlweise empört oder entzückt: eine rechtschaffene Donna Anna, die Marina Rebeka bisweilen mit etwas viel Druck angeht, eine verschüchterte, herzergreifende Zerlina von Anna Goryachova und eine fabelhafte Donna Elvira von Julia Kleiter, deren scharfsinnige Gestaltung von ihrer Arbeit mit Nikolaus Harnoncourt zeugt.
Plastische Kontraste
Auch im Musikalischen werden hin und wieder Erinnerungen an Harnoncourt wach, der im Opernhaus Zürich nicht nur in den achtziger Jahren mit seinen Mozart-Lesarten Geschichte gemacht hat. Der britische Dirigent Robin Ticciati hat die übermächtige Rezeptionsgeschichte dieses Werks nicht an sich vorbeiziehen lassen. Er wählt schnelle Tempi – etwa für das Molto Allegro in der Ouvertüre –, er lässt das Orchester La Scintilla auf angehobenem Orchestergraben fast auf Zuschauerniveau sitzen und viele der Kontraste der Partitur plastisch heraustreten. Und doch fehlte hier an der Premiere etwas, war etwas noch nicht genug gereift. Das Orchester auf historischen Instrumenten klang in der Ouvertüre trocken, die Balance litt immer wieder stark, die Artikulation wollte nicht genug sprechend gelingen, und es schlichen sich kleine Unsauberkeiten ein. Im Laufe des Abends gelang es Ticciati aber immer besser, differenzierte Spannungsbögen aufzubauen.