Oliver Meier, Berner Zeitung (04.03.2013)
Vom Singspiel zum surrealen Stückwerk: Konzert Theater Bern zeigt Mozarts «Die Entführung aus dem Serail». Regisseurin Lydia Steier wagt einen Regietheaterwurf und verliert sich zwischen Psychoanalyse und Entertainment. Doch der musikalische Zugriff entschädigt für manches.
Na gut: Mit «Mohren» und Morgenlandbombast kann man heute nicht mehr kommen. Überhaupt: Wer kann sich noch erwärmen für eine Geschichte über wackere Abendlandhelden, die sich mit einem miesen Haremswächter zanken, um ihre Frauen aus dem Orient zu befreien? Der türkisch-osmanische Duft, den «Die Entführung aus dem Serail» verströmt, war schon bei der Uraufführung von Mozarts Singspiel 1782 nicht mehr ganz frisch.
Wie geht man damit um? Regisseurin Lydia Steier ergreift bei ihrem Bern-Debüt sozusagen die Flucht nach vorne – und verrennt sich in den Konsequenzen ihres Regietheaterkonzepts, das zwar gut durchdacht, aber eben auch ziemlich verkopft wirkt.
Surrealer Tagtraumtrip
2004 hat die heute 34-jährige Amerikanerin Mozarts Werk bereits einmal einstudiert – als Assistentin des vielgerühmten und -gescholtenen Calixto Bieito, der Opernklassiker virtuos zu zerfleischen pflegt. Bieito machte das Singspiel zur abgründigen Seelenschau. Und das versucht nun auch Steier. Aber mit anderen Mitteln. Den Mitteln des gutamerikanischen Entertainments.
Steiers Inszenierung ist angelegt als Tagtraumtrip in die Seele der Protagonistin. Konstanze (Robin Johannsen) wird zur Gefangenen ihrer selbst. Und was sie (um)treibt, zeigt die Regie in einer köstlichen Szene zu den Klängen der Ouvertüre: Konstanze erscheint als Braut in der Kirche, «übermannt» von einer Panikattacke, die das Zeremoniell erst einfrieren, dann ausarten lässt – und den Weg freimacht für die surreale Reise in die Innenwelt Konstanzes, die angesichts der gutbürgerlichen Weichenstellung mit sich ringt.
Spiel mit Identitäten
Im Wunderland, das die Regie in der Folge skizziert, ist der Orient bloss als flüchtiges Zitat präsent. Der Chor versammelt seltsame Wesen: einen Derwisch, einen Sultan mit Riesenturban, einen Nikolaus, einen Märzhasen, einen Perückenmozart und eine schwangere Jungfrau Maria. Der Einfall ist hübsch, aber zu brav für eine albtraumhafte Groteske. Auch bei den Protagonisten wirbelt die Regie manches durcheinander, mit Vorliebe aber die Geschlechtsidentitäten. Osmin, der Haremswächter, erscheint als stämmig-resolute Brautjungfer. Und wie Pavel Shmulevich diese tragikomische Gestalt ausfüllt, mit schwarzem Bass, aggressiv, unberechenbar und zugleich verletzlich – das vergisst man nicht so schnell. Neben Shmulevich wirken die anderen Protagonisten darstellerisch geradezu blass, mal abgesehen von Tenor Andries Cloete, der den Diener Pedrillo sehr agil gestaltet.
Gestrichene Dialoge
Robin Johannsen indes vermag Konstanze kaum Facetten abzugewinnen, die das Mass konventioneller Inszenierungen deutlich übersteigt. Und hier liegt ein Hauptproblem dieser Produktion. Die Regie betreibt nicht nur viel Aufwand, sie nimmt sich auch viele Freiheiten, um Konstanze zu fokussieren. Doch der Preis dafür ist zu hoch.
Das Bemühen um eine Aktualisierung des Stoffs mündet in eine Produktion, die vom Libretto nicht viel mehr als Versatzstücke übrig lässt. Und die wirken ungefähr so charmant wie das Rohbaugerüst, das die Inszenierung prägt (Bühne: Susanne Gschwender). Es gibt viel leere Geschäftigkeit. Und manches erschliesst sich erst bei der Lektüre des Programmhefts. Ein Grossteil der Dialoge ist gestrichen. Nur jene zwischen Konstanze und dem Bassa Selim sind in verfremdeter Form erhalten. Der vermeintliche Morgenlandpascha wiederum erscheint als Alter-Ego-Frau (Beren Tuna), die Konstanzes dunkle Seiten spiegeln soll.
Überzeugendes Orchester
Die Regisseurin, so scheint es, ist zur Gefangenen ihres Grundkonzepts geworden. Und da gibts für Kevin John Edusei wenig zu retten. Allerdings: Was der deutsche Dirigent mit dem Berner Symphonieorchester an Farbe und Vitalität aus der Partitur herausholt, ist bemerkenswert. Eduseis präziser Zugriff hat mit der aufgerauten Rhetorik eines Nikolaus Harnoncourt wenig gemein. Er setzt auf filigrane Gesanglichkeit. Entsprechend schlank und weich ist das Klangbild. Entsprechend durchdacht wirken Tempi und Dynamik. Die Solisten gehen in demselben Geist an die Musik heran. Bestechend leichte Mozartstimmen sind da zu hören, namentlich von Uwe Stickert (Belmonte), Yun-Jeong Lee (Blonde) und Robin Johannsen (Konstanze). Johannsen hat zwar (noch) keinen dramatischen Sopran, dafür eine begeisternd biegsame Silberstimme. Zu Recht wird sie am Ende gefeiert, so wie auch das übrige Ensemble. Erst als das Regieteam auf die Bühne kommt, raut sich die Stimmung auf. Es gibt eine Bravi-Fraktion. Es gibt aber auch eine Buh-Fraktion, die sich zum Forte aufschwingt.