Daniel Allenbach, Der Bund (04.03.2013)
Lydia Steiers Inszenierung von Mozarts «Entführung aus dem Serail» am Berner Stadttheater zeigt starke Gefühle – und weckt sie auch: Die Bravos und Buhs für die Regie wollten an der Premiere kein Ende nehmen.
Der Zuschauerraum des Berner Stadttheaters verdunkelt sich, der Dirigent tritt auf und der Premierenabend beginnt. Doch es ist nicht der Taktstock von Kevin John Edusei, der den Abend eröffnet: Noch vor der Ouvertüre erklingt ein schiefer Choral, dann geht der Vorhang auf und zeigt eine Hochzeitsszene statt dem im Operntitel versprochenen Serail. Der Bräutigam wartet, die Brautjungfern ziehen ein, und schliesslich erscheint die Braut am Arm ihres Vaters. Und plötzlich erstarrt die Szenerie – die Braut beginnt zu zweifeln und unterbricht die feierliche Atmosphäre.
Über die Aufgabe des Regisseurs oder der Regisseurin in der Oper gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Viele Theatergänger verlangen einzig eine halbwegs schlüssige Nacherzählung der Handlung – nur keine Überraschung, keine Ablenkung und vor allem kein als Selbstverwirklichung verschrienes Regietheater. Auf der anderen Seite steht der Anspruch, die altbekannten Werke des Musiktheaters neu zu lesen und mit dem Blick unserer Zeit neue Aspekte an ihnen zu entdecken. Beide Seiten haben gute Argumente: etwa dass manche «Regietäter» sich nicht ernsthaft auf ein Werk einlassen und diesem willkürlich irgendwelche Inhalte aufpfropfen; auf der anderen Seite ist da aber auch die Notwendigkeit, das Theater am Leben zu erhalten, mit Mut zum Risiko neue Ideen durchzudenken und nicht in Schönheit und Tradition zu erstarren.
Die Kirche versinkt im Boden
Die amerikanische, in Berlin lebende Regisseurin Lydia Steier wählt in ihrer ersten Inszenierung am Stadttheater Bern den zweiten Weg: Sie befreit die Handlung von Wolfgang Amadeus Mozarts 1781 entstandenem Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» aus den türkischen Palästen und verlegt sie stattdessen in das Unterbewusstsein von Konstanze (Robin Johannsen), die zu Beginn des Abends am Traualtar steht und plötzlich kalte Füsse kriegt. Die Kirchenfassade versinkt im Boden, und stattdessen erscheinen mehrstöckige Baugerüste vor einer Unterwasserprojektion (Bühnenbild: Susanne Gschwender).
Wenn die Trauzeremonie am Ende des Theaterabends fortgesetzt wird, scheint dennoch nur ein Moment vergangen – ein Augenblick allerdings, gefüllt mit einer geballten Ladung an Emotionen. Dies gleich im doppelten Sinn: Selbstredend ist die Innensicht von Konstanze von widerstrebenden Gefühlen geprägt; doch zusätzlich geben am Ende des Stücks auch die Zuschauerinnen und Zuschauer Einblick in ihr Inneres. Während die Sängerinnen und Sänger sowie das Orchester einhelligen Applaus ernten, wollen die Buhs und Bravos für die Regie gar nicht mehr abflauen.
Ehrlichkeit und Entertainment
Natürlich: Wer wie Steier die ursprüngliche Handlung von Mozart und seinen Librettisten aufbricht, macht sich angreifbar und geht ein Risiko ein. Schwachpunkte gibt es dabei immer, von der Tatsache, dass man als Zuschauer wohl überfordert ist, wenn man nicht im Vornherein weiss, dass die ganze Handlung in Konstanzes Unterbewusstsein spielt, über gelegentliche Widersprüche von Text und Szene bis hin zum Schlusschor mit dessen Lob der weiblichen Bassa Selim (Beren Tuna), die von der Inszenierung als undurchschaubares Alter Ego Konstanzes gezeichnet wird und für den Rest der Bühnenfiguren der Hochzeitsgesellschaft deshalb keine Rolle spielen dürfte.
Doch abgesehen davon bietet die Idee über weite Strecken spannendes Musiktheater – und die vermeintliche Provokation ist eigentlich keine: Steier zeigt mehrheitlich solides Handwerk mit humoristischem Einschlag. Mit Ehrlichkeit und Entertainment will sie ein breites Publikum für Oper begeistern (siehe «Kleiner Bund» vom Montag) – und genau das setzt sie auch um, obwohl nicht jedes Detail schlüssig gelingt.
Man darf sich fragen, was Stepptanz mit dem von Andries Cloete als Pedrillo gesungenen Ständchen zu tun hat, doch unterhaltsam ist beides – ebenso wie der ganze Abend, an dem immer wieder etwas läuft auf der Bühne, und notabene ohne dass die Musik völlig von der Regie erschlagen wird. Einiges ist Klamauk, wie der Schaukampf der von Yun-Jeong Lee makellos gesungenen Blonde mit dem als Transvestiten zwischen Männern und Frauen angesiedelten Osmin – im Original ein Eunuch –, dessen Rolle Pavel Shmulevich mit seinem klangvollen Bass sichtlich geniesst.
Auch die überdrehten Choristen (Einstudierung: Zsolt Czetner) und die Statisterie in ihren fantasievollen Kostümen (Siegfried Zoller) scheinen direkt einer Freak-Show entsprungen. Doch daneben gibt es zarte und berührende Momente, etwa wenn Belmonte (Uwe Stickert) um die Geliebte trauert oder wenn Robin Johannsen als Konstanze sich über ihre wahren Gefühle klar zu werden versucht.
Klänge ohne Schnickschnack
Auf einhellige Begeisterung stösst immerhin die Musik. Da wäre einerseits das von Kevin John Edusei mustergültig geleitete Berner Symphonieorchester. Griffig und leicht, ohne Schnickschnack und sorgfältig gearbeitet erklingt Mozarts wunderbare Musik aus dem Graben und wird von Edusei präzise mit der Bühne koordiniert. Mit kompakten Streicherregistern und schönen Bläserkantilenen trägt der Abend allein schon durch die Klänge der Musikerinnen und Musiker.
Doch die Sängerinnen und Sänger stehen dem in nichts nach, auch ihnen möchte man noch lange zuhören, sei es in den faszinierenden Mozart’schen Gesangsensembles oder in den teils ergreifend gestalteten Arien. Insbesondere Robin Johannsen verfügt als Konstanze über eine fantastische Höhe und schöne Klangschattierungen, die ihren inneren Zwiespalt glaubhaft zu machen vermögen, ob sie nun verloren auf der Bühne steht oder in Raserei verfällt. Perfekt zu Mozarts Musik fügt sich auch der schön timbrierte Tenor von Uwe Stickert als Belmonte, der angesichts der zunächst geplatzten Hochzeit aus allen Wolken fällt. Am Ende gelingt die Annäherung wieder, Konstanze und Belmonte tauchen aus dem Unterbewussten auf und stehen erneut vor dem Pfarrer und der freudigen Hochzeitsgesellschaft. Zweifel mögen bleiben, Scheitern ist möglich, die Zukunft und der Ausgang der Geschichte bleiben offen: Nicht nur Theater, auch und besonders das Leben verlangt Mut zum Risiko.