Jürg Huber, Neue Zürcher Zeitung (22.04.2013)
Dominique Mentha inszeniert am Luzerner Theater Claudio Monteverdis «Il ritorno d'Ulisse in patria», während im Keller Studenten der Hochschule Luzern eigene Odysseus-Interpretationen zeigen.
Warten. Seit zwanzig Jahren schon. Längst ist Penelopes Trauer um den verschollenen Gatten zur Depression geronnen. Dienerin und Sohn vermögen sie nicht aufzuheitern; wenigstens die ungebetenen Freier, die sich im königlichen Haushalt breitgemacht haben, wecken Abwehr und damit ihre Lebensgeister. Als der lang Ersehnte zurückkehrt, fremdelt Penelope einen ganzen Akt lang, bis sie mit Ulisse, wie Odysseus im Italienischen heisst, wieder gemeinsam das Lager bezieht. Verständlich, denn ihrer beider Leben haben ganz unterschiedliche Bahnen beschritten.
Alles, was Oper in den kommenden Jahrhunderten ausmachen sollte, ist in Claudio Monteverdis «Il ritorno d'Ulisse in patria» schon da: liebende Tragödinnen und leichtlebige Mädchen, anrührende Szenen und derbe Spässe, Beziehungsgeschichten und überirdische Mächte, unplausible Handlungen – und ein Blick in menschliche Tiefen und Situationen, die mit ihrer Zeitlosigkeit Menschen jeder Epoche anzusprechen vermögen. Eine Basslinie zur Melodie, dazu ein paar fünfstimmige Sinfonien und Ritornelle ist alles, was Monteverdi benötigt, um in seiner 1640 uraufgeführten Oper einen musiktheatralischen Kosmos auszubreiten.
Dass mit geringen Mitteln viel Effekt zu erzielen ist, weiss auch Dominique Mentha. Zusammen mit dem kargen Bühnenbild von Werner Hutterli und der stimmungsvollen Lichtregie von Peter Weiss gelingt das dem Hausherrn am Luzerner Theater zunächst ganz gut. Das Leben ist ein Spiel, zeigt er, dessen Regeln wir nicht kennen, die Menschen bloss Marionetten rachsüchtiger Götter, die auf ihren Schiedsrichterstühlen über deren Schicksal verhandeln. Mit ihrer stimmlichen Präsenz ragt Simone Stock als Minerva aus der Götterfamilie heraus und etabliert sich als die eigentliche Gegenspielerin des mit profundem Bass agierenden Nettuno (Patrick Zielke).
Auf der irdischen Bühne hadert Penelope (Carolyn Dobbin) mit warmströmendem Mezzosopran mit ihrem Schicksal, der Annina Haug als Dienerin Melanto lebhaft widerspricht. Mit verschleppten Koloraturen charakterisiert Robert Maszl den Vielfrass Iro, während Todd Boyce als Hirte Eumete den Romantiker markiert. Berührend gerät die Begegnung von Vater Ulisse und Sohn Telemaco, die Utku Kuzuluk und Hans-Jürg Rickenbacher mit leichten Stimmen innig gestalten. Nach der Pause ziehen sich die gut drei Stunden dann doch dahin. Die klamaukhaft angelegte Szene mit den drei Freiern erschöpft ihr Potenzial trotz den opulenten Kostümen von Anna Ardelius bald, und auch die übrigen Figuren gewinnen kaum an Facetten. Einzig Ulisse bleibt geheimnisvoll und in seiner Wüstenuniform zwielichtig, was das grosse Schlussduett mit Penelope unterstreicht.
So mag man bedauern, dass sich der musikalische Leiter Howard Arman auf Streicher beschränkt und auf Holz- und Blechbläser verzichtet. Stattdessen legt er Wert auf die Ausgestaltung des Continuos, für den die engagierten Mitglieder der Schola Cantorum Basiliensis ein reichhaltiges Instrumentarium mitbringen. Cembalo, Orgelpositiv, Harfe, Barockgitarren und Theorben entfalten im intimen Luzerner Haus, das aufgrund eines neuen Theaterkonzepts bald ausgedient haben dürfte, eine hohe Präsenz, während die Artikulation der solistisch agierenden Streicher des Luzerner Sinfonieorchesters zurückhaltender ausfällt.
Die «Odyssee» ist derzeit nicht nur im Stammhaus ein Thema. Im UG, der Kellerbühne des Luzerner Theaters, hatte am Abend zuvor «Ansichten einer Reise» Premiere. In dieser vorwiegend von Kräften der Hochschule Luzern gestalteten Produktion erhielten fünf Studierende der Kompositionsklasse die Möglichkeit, den Odysseus-Mythos aus eigenem Blickwinkel zu beleuchten. Vielstimmig zwischen Sprechen und Singen setzt Christoph Blum das Warten um und lässt dabei die Protagonisten auch die eigene Bühnensituation reflektieren. Als schon versierter Theatermusiker erweist sich Simon Bühler, der die Beziehung zwischen Odysseus und Athene gekonnt thematisiert. Mehr klangliche Widerhaken und damit Spannungselemente baut Lea Danzeisen in ihre Opernszene ein, die Geräuschhaftes mit Zerbrechlichem verbindet. Effektvoll gestaltet Daniela Achermann Odysseus' Auseinandersetzung mit den von Dritan Kosovrasti schrill eingekleideten Sirenen, während Adrian Kleinlosen eine sehr gestische Musik für zwei Paare komponierte.
Zwischen Tobias Flemmings verwinkelten Bühnenelementen und dank dem durchgehend präsenten Ensemblemitglied Flurin Caduff (Bassbariton) gelingt es dem Regisseur Benjamin Schad, einen Bogen über diese zwischen Neoklassizismus und Avantgarde changierenden Fingerübungen zu spannen. Zum Gelingen der einstündigen Produktion tragen die frischen Stimmen von Nuria Richner und Stefanie Erni (Sopran), Stephanie Szanto (Mezzosopran) und Jonathan Prelicz (Bariton) ebenso bei wie das kleine, mit Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier besetzte und von Michael Wendeberg geleitete Hochschulensemble. Die Oper, so das Fazit, vermag auch vier Jahrhunderte nach Monteverdi junge Menschen auf vielfältige Weise herauszufordern.