Auf dem Rummelplatz der Eitelkeiten

Oliver Meier, Berner Zeitung (28.05.2013)

Il Trionfo del Tempo e del Disinganno, 26.05.2013, Bern

Musiktheater · Skandal? Ach was. Konzert Theater Bern begeistert mit einer eingekauften Inszenierung von Händels erstem Oratorium. Der umstrittene Starregisseur Calixto Bieito zeigt «Il trionfo del tempo e del disinganno» als lebensprallen Bilderreigen. Musikalisch bleibt die Produktion aber einiges schuldig.

Am Ende kreisen die Greise auf dem Rummelplatz der Gefühle. Sie sitzen auf dem Kettenkarussell, in Unterwäsche. Sie lachen, grölen und winken, wie Kinder. Sind sie schon in der Ewigkeit angekommen? Oder drehen sie ihre letzten Runden, befreit von Jugendwahn und Eitelkeit? Oder sind sie – schlicht übergeschnappt? Prägnant und mehrdeutig ist das Schlussbild. So wie die Musik von Georg Friedrich Händel. Und so wie die Inszenierung von Calixto Bieito. Zwischen den Alten, gequetscht in einen Karussellsitz, liegt Disinganno, die personifizierte Enttäuschung (Ursula Hesse von den Steinen), mit einem Müllsack über dem Kopf. Und dann und wann kreist ein bunter Elefant vorbei, in diesem atemlosen Endspiel.

Vermeintlicher Opernschreck

Am Ende tobt das Berner Publikum. Vor Freude, nicht vor Wut. Das war nicht unbedingt zu erwarten. Dieser Calixto Bieito ist immerhin verschrien als Opernschreck und Regieberserker. Vor der Premiere gab es Berner «Steuerzahler», die sich vorbeugend enervierten und als «Stimmbürger» dem Theater die Unterstützung bei der Sanierung des Hauses entziehen wollten. Falls sie an der Premiere waren, wurden sie gnadenlos überjubelt. Zu Recht. Es ist, nach «Fidelio» zum Saisonstart und viel Mittelmass danach, ganz einfach die beste Inszenierung der Saison.

«Il trionfo del tempo e del disinganno» (Der Triumph von Zeit und Enttäuschung) ist eine Produktion der Staatsoper Stuttgart. Sie zeigt, wie Bieito ein allegorisches Oratorium der Barockzeit mit heutigen Assoziationen auflädt und daraus sinnliches Musiktheater macht. Und sie zeigt, wie avanciert Händel als 22-jähriger Komponist bereits war.

Allegorische Figuren

Als «il Sassone» (der Sachse) 1706 in Rom eintraf, waren Opern päpstlich verboten. Umso mehr blühten die Oratorien, und diese klangen wie ihre verbotenen Geschwister. Wie getarnte Opern. Kardinal Benedetto Pamphilj lieferte Händel das Libretto für sein erstes Oratorium. Es konfrontiert den ewigen Wunsch nach Schönheit mit der Last der Vergänglichkeit, lädt beides religiös-moralisch auf. Aus den abstrakten Prinzipien werden allegorische Figuren. Bellezza (Schönheit) schwört Piacere (Vergnügen) ewige Treue. Doch Tempo (Zeit) und Disinganno (Desillusion oder auch Erkenntnis) setzen ihr gehörig zu, und nach zweieinhalb Stunden gibt die Schönheit klein bei. Ihre Schlussarie «Tu del ciel ministro eletto» ist schlichtes Verlöschen. Bieito behält das philosophische Fundament bei, zugleich psychologisiert er die Figuren sehr konkret. Das verspiegelte Kettenkarussell wird zur grossen Lebensmetapher, der Rummelplatz zum Schlachtfeld der Eitelkeiten. Eine eigentliche Handlung gibt es nicht. Nur wechselnde Affekte. Bieito schöpft daraus lebenspralle Bilder, die von Angst, Schmerz und Verzweiflung, von Träumen und Hoffnungen erzählen. Von der Zerbrechlichkeit des Lebens.

Gewiss, manche Bilder sind reichlich frivol, und manche davon eher unappetitlich. Man stellt sich Schöneres vor als eine zombiehafte Disinganno, die sich das blutende Herz aus dem Décolleté holt und in zwei Stücke reisst, um es zu verschenken. Piacere (Christina Daletska), diese aufgedonnerte Räkelbraut, masturbiert exzessiv. Wie die Zeit (Charles Workman) die Enttäuschung (Ursula Hesse von den Steinen) stranguliert, ist nicht nett anzusehen. Und ja, nicht alle Bilder erschliessen sich direkt. Aber Bieitos geschmeidige Regiekunst bringt das Entscheidende mit sich: Nichts wirkt aufgesetzt, alles scheint entwickelt aus Libretto und Musik.

Zwiespältiges Ensemble

Und diese Musik hat es in sich. Händels Affektklangtheater verknüpft Rezitative, Arien und kunstvolle Ensembles. Manche Arien («Un pensiero nemico di pace» oder «Lascia la spina») sind später zu Händel-Hits geworden. Und wenn sich die Orgel im konzertanten Übermut ergeht, scheint Meisterorganist Händel selbst von den Toten zu auferstehen. Schade nur, dass die Produktion musikalisch einiges schuldig bleibt. Das Berner Symphonieorchester wirkt durch die Erhöhung des Grabens zwar sehr präsent, und mit Sébastien Rouland am Pult zeigt es viel Sinn für die intimen, verschatteten Seiten der Musik. Vor allem im ersten Teil vermisst man aber jene Spritzigkeit, die es braucht, um dieses Barockwerk zu tragen und voranzutreiben. Öfter mangelt es an klarer Artikulation und sauberer Intonation. Und auch das Solistenquartett ist nicht über alle Zweifel erhaben. Zu grell, zu vibratoreich und gepresst wirkt manches. An Feuer indes mangelt es den Sängern nicht, und darstellerisch agiert das Ensemble um Hélène le Corre als Bellezza sehr überzeugend. Wenn sich Bellezza am Ende Asche übers Haupt streut und sich ihrer Kleider entledigt, um Tempo zu umarmen, ist das von berührender Intimität. Und Bieito, der Skandalregisseur, erscheint plötzlich als Mann der Sanftmut und Versöhnlichkeit.