Daniel Allenbach, Der Bund (28.05.2013)
Wenn die Schönheit vergeht: Calixto Bieito sorgt am Stadttheater Bern mit seiner Inszenierung von Georg Friedrich Händels Oratorium «Il Trionfo del Tempo e del Disinganno» für schonungslose und starke Bilder.
Asche zu Asche, Staub zu Staub: Georg Friedrich Händel und sein Librettist Benedetto Pamphilj bewiesen bereits rund hundert Jahre vor Schillers berühmtem Zitat aus dessen Gedicht «Nänie», was Sache ist: «Auch das Schöne muss sterben.» Um die vier allegorischen Figuren von Schönheit und Tod, Genuss und Ernüchterung kreist ihr 1707 in Rom entstandenes Oratorium «Il Trionfo del Tempo e del Disinganno» (Der Triumph der Zeit und der Enttäuschung).
Die meisten Musikliebhaber verbinden den Begriff Oratorium mit geistlicher Musik - vom klösterlichen Betsaal oder Bethaus entlehnte sich die Gattung denn auch ihren Namen. Doch bereits zu Händels Zeit war diese Festlegung alles andere als zwingend: Ein Oratorium konnte sich genauso weltlich-moralischen Themen widmen, im Unterschied zur Oper verzichtete es dafür auf eine durchgehende und stringente Handlung, da es in der Regel nur konzertant aufgeführt wurde.
Musikalisch bietet Händel denn auch eine reiche Palette von Schattierungen und Gefühlslagen, die vom Berner Symphonieorchester angesichts der durchsichtigen Faktur viel Einsatz verlangen. Sébastien Rouland bringt seine Interpreten mit den flüssigen Tempi teilweise an die Grenzen, vermag Klippen aber meist zu vermeiden und führt so der allgegenwärtig postulierten Vergänglichkeit aller Schönheit zum Trotz die alte und immer neu lebendige Musik zum eigentlichen Triumph des Abends.
Grelle Gestalten
Inhaltlich und szenisch bricht Regisseur Calixto Bieito, dessen Stuttgarter Inszenierung für Bern von Lisa Katharina Holzberg neu einstudiert worden ist, die etwas steifen philosophischen Sinnbilder des händelschen Originals auf. Anstelle der zurückhaltenden allegorischen Gestalten zeigt er mit viel Kunstblut vier grelle Figuren von einer verstörenden Direktheit - es knallen gar ein, zwei Türen - und hält der heutigen Welt einen Spiegel vor.
So tritt Christina Daletska als Piacere (Genuss) mit ganzen Armladungen voller markenbedruckter Papiertüten in Erscheinung, wechselt ständig ihre aufreizenden und ausgefallenen Kostüme (Anna Eiermann) und unterfüttert ihre Aufgedrehtheit mit Energy Drinks und anderen Aufputschmitteln. Die Enttäuschung (Disinganno) wird von Ursula Hesse von den Steinen als desillusionierte Aussenseiterin gezeichnet, die Wände beschmiert, sich mit viel Alkohol tröstet, Teddys massakriert und nicht zuletzt auch sich selbst das Herz aus dem Leib schneidet.
Der Dritte im Bunde, Charles Workman als Zeit (Tempo), scheint zu Beginn noch halbwegs vernünftig, wenn er die Vergänglichkeit anmahnt, zeigt sich aber mehr und mehr vom Tod besessen, animiert zu russischem Roulette und erstickt die Enttäuschung gleich eigenhändig. Bleibt schliesslich die Schönheit (Bellezza), die Hauptperson des Stücks, die überhaupt erst den Anlass zum Treiben auf der Bühne gibt und als einzige dieser allegorischen Personen auch halbwegs eine Entwicklung durchmacht.
Sie ist es, die von der Zeit gemahnt wird und dies zunächst nicht akzeptieren mag. Lieber betrachtet sie sich selbst in den spiegelnden Oberflächen der Bühne, lässt sich vom Genuss verführen und versucht, die Enttäuschung von sich fernzuhalten. Hélène Le Corre gibt diese Schönheit mit eindringlicher Intensität und wunderbar zarter Stimme. Ob rasende Koloraturen oder sehnsüchtige Phrasen - nach einem noch etwas verhaltenen Einstieg begeistert sie mit stupender Technik und einnehmendem Ausdruck.
Karikaturen und starke Bilder
Ihre Verführer und Gegenspieler stehen ihr dabei in nichts nach. Als hyperaktive Genusssucht zieht Christina Daletska sämtliche Register der vokalen Kunst und sorgt gegen Ende gar für Szenenapplaus, während Ursula Hesse von den Steinen und Charles Workman sich ebenfalls mit packender Virtuosität empfehlen. Szenisch gerät allerdings insbesondere die Enttäuschung zu einer karikaturhaften Fratze, ein Glaubwürdigkeitsmanko, das den Allegorien von Händel bereits eingeschrieben ist und durch Bieitos schonungslose, oft sehr präzise Lesart des Librettos noch gesteigert wird. Starke Bilder ergeben sich trotzdem, nur schon durch den Ort des Geschehens, eine Art Rummelplatz des Lebens (Bühne: Susanne Gschwender). Ein glitzerndes und leuchtendes Kettenkarussell dreht sich immer wieder schwungvoll im Kreis, fröhliche Kinder juchzen und winken. Doch die Vergänglichkeit fordert ihren Preis: Nach der Pause ist der Lack ab, das blosse Skelett des Karussells ohne glänzende Oberflächen und strahlende Lichter weckt nur noch eine schale Erinnerung, auch wenn am Ende ältere Menschen in hautfarbenen Kostümen wie zuvor die Jungen und Mädchen auf dem sich drehenden Karussell sitzen und lachend und winkend im Kreis fahren.
Dafür dominiert im zweiten Teil unbarmherziges Licht (Reinhard Traub), eine Zeit lang gar im Zuschauerraum. Dorthin weist die Zeit die Schönheit - und fordert sie auf, der vergänglichen Realität ins Gesicht zu blicken - die Welt im Spiegel des Theaters im Spiegel der Welt.