Die Königin ist zurück

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (25.06.2013)

La Straniera, 23.06.2013, Zürich

Das Zürcher Opernhaus zeigt Vincenzo Bellinis «La straniera» als Schweizer Erstaufführung. Edita Gruberova ist gefordert.

Ein Schleier (weiss) für Isoletta, ein Schleier (schwarz) für die «Straniera», selbst die Bühne trägt Gaze: Kein Zweifel, es gibt einiges zu enthüllen an diesem Abend. Zunächst einmal gilt es, den Schleier des Vergessens über dieser frühen Bellini-Oper zu lüften. Und dann führt auch die Oper selbst Schicht für Schicht zu einer Wahrheit, die so unwahrscheinlich ist, wie sie in Opern nun mal sein darf.

Da ist also Arturo, der seine Braut Isoletta stehen lässt für die «Straniera», eine geheimnisvolle Fremde namens Alaide. Und da ist Arturos Freund, der so seltsam vertraut mit dieser Fremden umgeht. Betrug? Oder doch nicht? Es folgen: ein Duell, die Entlarvung des «Rivalen» als Alaides Bruder, eine Auferstehung des vermeintlich Toten und am Ende die Erkenntnis, dass Alaide die ins Exil geschickte Königin von Frankreich ist. Kurz gesagt: Es ist keine Oper, die man sich wegen ihrer Handlung anschauen müsste.

Christof Loy, der Regisseur, hat denn auch fast nichts von der Handlung gewusst, als er als 20-Jähriger eine Schallplatte mit diesem Stück hörte und grossartig fand. Inzwischen ist er 50 und hat die «Straniera» auf die Bühne gebracht als psychologische Studie über Figuren, die alle mehr oder weniger neben der Spur leben. Der Liebeswahn des Arturo, die Leidenswilligkeit der Fremden - sie übersteigen alles, was man gemeinhin als realistisch ansehen könnte.

Ein Kleid wie eine Meringue

Loy ist das gerade recht. Er hat sich von Annette Kurz eine Bühne auf die Bühne bauen lassen, die Wald-Gazen lassen sich per Seilzug herunterlassen. Wer die Fäden zieht, wer wem einen Strick dreht: Das wird hier sozusagen physisch sichtbar. Und dann gibt es ein idyllisches Gemälde einer Seelandschaft, das sich praktischerweise als Fotohintergrund verwenden lässt, wenn Isoletta gegen Ende doch noch einmal kurz an ihre Hochzeit mit Arturo glaubt.

Das ist der einzige leicht ironische Moment in einer Inszenierung, die sonst alles sehr ernst nimmt. Schön, opernhaft, gediegen soll alles aussehen: Luftig wie eine Meringue hat Ursula Renzenbrink Isolettas Hochzeitskleid gestaltet, das Volk scheint einem vergilbten Fotoband entstiegen, und wenn Arturo den Degen zieht, denkt man kurz an eine Parodie - doch es ist keine.Aber wie die Handlung liefert ja auch die Regie vor allem den Rahmen für das Wesentliche. «Es soll nur die richtige Sängerin sich hinstellen und es singen, und es reisst hin», schrieb einst Richard Wagner. Die Sängerin heisst hier Edita Gruberova und hat schon oft jeden hingerissen. Aber inzwischen ist sie 66 Jahre alt, und ganz ist das in dieser Monsterpartie und im Premierenstress nicht zu überhören: Zwar klingt ihr Sopran immer noch fast mädchenhaft hell, in Sachen Stilkenntnis und Gestaltungskraft kann sie es mit jeder Jüngeren aufnehmen, und nach wie vor schafft sie ihre magischen Pianissimi. Aber ihre Intonation ist in den exponierten Passagen nicht mehr so makellos wie einst, in den hohen Lagen kippt der Schmelz zuweilen ins Schrille. Es kommt vor, was es bei Edita Gruberova früher nie gab: dass man ein bisschen auf Nadeln sitzt beim Zuhören. Und froh ist über die guten Momente.Es gab diese Momente, und das Premierenpublikum wusste sie zu würdigen. Wobei der Jubel wohl nicht nur ihrem Auftritt, sondern vor allem ihrer Rückkehr galt: Vor zehn Jahren hatte sich Gruberova mit Alexander Pereira verkracht, nun hat sie ihr Exil endgültig beendet - mit einem Rollendebüt, das passender nicht hätte sein können. Die Königin ist zurück.

Für die Bestätigung von Wagners These sind diesmal trotzdem andere verantwortlich. Veronica Simeoni hat als Isoletta zwar nur zwei kurze Auftritte, aber man hört und sieht genug dabei, um sich auf ihre Engagements in der nächsten Saison zu freuen: Rund und warm klingt ihr Mezzosopran, virtuos ohne jede Anstrengung, nicht einmal der Schleier stört ihre szenische Präsenz. Sicher kommt ihr auch die italienische Muttersprache zugute, genau wie Franco Vassallo, der als Arturos Freund und Alaides Bruder nicht nur inhaltlich, sondern auch vokal zur Stütze der ganzen Gesellschaft wird.

Fies und gut

Dann gibt es noch zwei Tenöre: den fiesen, auf den das Ensemblemitglied Benjamin Bernheim inzwischen mit guten Gründen abonniert ist; und den guten, liebenden, verzweifelten, also Arturo, für den Dario Schmunck nicht unbedingt die Physique du rôle mitbringt, aber eine lyrische, entspannte, im besten Sinne belcantistische Stimme.

War da sonst noch was? Genau, die Musik. Um auch den anderen diesjährigen Jubilar zu zitieren: «Armut in der Instrumentation und Harmonik» hat Verdi Bellini attestiert, nicht ganz zu Unrecht. Aber auch nicht ganz zu Recht, das zeigen Generalmusikdirektor Fabio Luisi und die Philharmonia Zürich in einer oft leisen, beweglichen Interpretation. Die Begleitung der stark gesungenen Chöre ist zwar bodenständig, aber gerade darin finden sich reizvolle volksmusikalische Anklänge. Das Flötensolo zu Isolettas Arie dürfte Donizetti gekannt haben, als er die berühmte Wahnsinnsarie der Lucia schrieb. Und wenn das Orchester im finalen Quartett die Protagonisten kaum begleitet, ist das nicht ein fast schon Verdi-würdiger Kniff, um ihre Einsamkeit zu untermalen?

Bei der Uraufführung 1829 war «La straniera» ein Grosserfolg, heute ist sie eine interessante Ausgrabung. Vieles, was später relevant wurde, ist hier angelegt. Aber das Stück selbst, mit seinen Protagonisten, seinen Konflikten, seiner ganz auf die Sänger ausgerichteten Musik: Das bleibt doch ein wenig fremd.