Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (24.09.2013)
Im Vergleich dazu erscheint Wagners «Ring» als Kinderspiel. Doch nun stehen «Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann auf dem Spielplan des Opernhauses Zürich. In einer grandiosen Produktion.
Es ist nicht allein Alexander Pereiras Schuld. Gewiss, über zwanzig Jahre lang hat sich der frühere Intendant des Opernhauses Zürich geweigert, das Stück ins Repertoire aufzunehmen – aber nicht nur er hat sich gegenüber diesem Hauptwerk des modernen Musiktheaters spröde gezeigt, seine Vorgänger haben es gleich gehalten. Jetzt freilich ist es so weit, sind «Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann im Opernhaus Zürich angekommen: in einer grandios gemeisterten, ebenso bewegenden wie spektakulären Produktion, mit welcher Andreas Homoki und sein Team ihre zweite Spielzeit in Zürich eröffnet haben.
Psychische Gewalt
Das Stück ist ein Solitär, wie sein Schöpfer einer war. Und es kennt, bei aller Reputation, die es längst erreicht hat, seine eigene Leidensgeschichte. Dem 1918 geborenen, 1970 aus dem Leben geschiedenen Komponisten waren «Die Soldaten» eine Herzensangelegenheit oberster Priorität. Doch schon der Entstehungsprozess des von der Oper Köln in Auftrag gegebenen Werks wurde behindert. Willy Strecker, der Verleger im Schott-Verlag, war gegen das Sujet und somit gegen die Verwendung der Komödie «Die Soldaten» von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792).
Der Kölner Generalmusikdirektor Günter Wand und sein Nachfolger Wolfgang Sawallisch hielten die Teile der Partitur, die sie gesehen hatten, für unspielbar; in seiner Autobiografie schildert Wand die Schwierigkeiten, die er mit den äusserst komplexen rhythmischen Verhältnissen in Zimmermanns Musik hatte. Schliesslich kam 1965 die Uraufführung in Köln aber doch zustande – und sie wurde zu einem durchschlagenden, nachhaltigen Erfolg.
Heute ist das Stück fest verankert im Repertoire. Dennoch lässt jede Begegnung deutlich werden – und die Produktion in Zürich unterstreicht es doppelt –, wie sehr «Die Soldaten» ihrer Entstehungszeit verbunden sind. Die Bürgerstochter Marie, die mithilfe ihrer ausgeprägten Weiblichkeit den gesellschaftlichen Aufstieg sucht und mit jedem Schritt nach oben in Wirklichkeit einen nach unten tut, bis sie gedemütigt, vergewaltigt und gebrochen in der Gosse landet – diese junge Frau lässt sich mit Soldaten ein, sie wird ein Soldatenmensch, was so viel heisst wie: eine Prostituierte.
Und welche Welt sie damit betritt, das wusste Zimmermann, der seinen Kriegsdienst geleistet hatte, nur zu genau. Der Komponist, der sich die Komödie von Lenz selbst eingerichtet hat, zeigt aber nicht nur das Einzelschicksal, er führt es am Ende auch von Lenz weg und hinüber in eine Apokalypse, welche die damals allgegenwärtige Angst vor dem finalen Atomschlag thematisiert.
Insofern hat die Entscheidung von Calixto Bieito, «Die Soldaten» im Gewand ihrer Entstehungszeit zu zeigen, ihre Plausibilität. Er beschreitet nicht den Weg von David Freeman, der das Stück 1996 in London in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs spielen liess, und auch nicht den von Alvis Hermanis, der es letzten Sommer bei den Salzburger Festspielen auf eine Katastrophe der Jetztzeit ausgerichtet hat. Er nimmt eher den Ansatz von Barbara Beyer auf, die das Werk 1998 am Theater Basel in den Jahren des Wirtschaftswunders angesiedelt hat.
Aber nicht um deren Spiessigkeit geht es Bieito, sondern um die Mechanismen der Gewalt, die sich hinter dem äusseren Glanz einer gut sitzenden Uniform verbergen (die Kostüme stammen von Ingo Krügler) und die von hierarchischen Strukturen hervorgebracht werden. Das zeigt er in beklemmender Schärfe – in der für seine szenische Handschrift kennzeichnenden Körperlichkeit, auch mit einigen Kübeln Theaterblut, aber ohne jeden Zug ins Provozierende. Paradebeispiel dafür ist jene Szene, in der die Gräfin de la Roche (Noëmi Nadelmann) die schon merklich angeschlagene Marie mit ausgekochter psychischer Gewalt von ihrem Sohn abzubringen sucht.
Gewalt der Serialität
Kongenial passen die schneidenden Kanten des Szenischen zur musikalischen Sprache des Stücks. Denn auch darin sind «Die Soldaten» ganz ihrer Entstehungszeit verbunden. Die Partitur gehört zu den Musterbeispielen seriellen Komponierens. Zugrunde liegt ihr eine Zwölftonreihe, in der alle Intervalle des temperierten Systems vorkommen, eine rationale, die Kategorien von Empfindung und Ausdruck schroff negierende Struktur. Aus dieser Reihe und ihren Ableitungen wird das gesamte musikalische Material gewonnen, aus ihr ergeben sich die ausserordentlich gezackten Linien der Gesangsstimmen und die zum Teil wahnwitzigen rhythmischen Überlagerungen im Instrumentalen, zumal im Schlagwerk.
Das Wunder der Zürcher Aufführung besteht nun aber gerade darin, dass sich aus diesem konstruktiven Denken, das sich bewusst von dem damals als korrumpiert empfundenen Espressivo abwendet, wieder ein so hohes Mass an Ausdrücklichkeit ergibt. Mag sein, dass man sich fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung an die Modernität des Idioms gewöhnt hat.
Tatsache ist aber vor allem, dass sich der Dirigent Marc Albrecht und die Philharmonia, das Orchester der Oper Zürich, sowie die Herren des Chors dieser anspruchsvollen Musik mit einer Hingabe sondergleichen zuwenden. Anders als Michael Gielen bei der (auf CD erhältlichen) Kölner Uraufführung, auch anders als Ingo Metzmacher bei der (auf DVD dokumentierten) Salzburger Produktion von 2012 setzt Albrecht nicht zuerst auf Schärfe und Wucht, er sucht hinter dem Komplexen und Aufeinandergeschichteten vielmehr auch das Farbige, das Warme, ja das virtuos Glänzende.
Seinen Widerhall findet das in dem riesigen, mit zahlreichen kleineren Partien durchsetzten Ensemble. Viele verschiedene Töne findet Susanna Elmark für ihre Marie; und mit welcher Intensität sie vorführt, wie dieses sogenannte Frauenzimmer von der brutalen Männergesellschaft geschunden wird, das geht fürwahr ans Lebendige. In nichts steht ihr Julia Riley in der Partie ihrer Schwester Charlotte nach. Während ihr Geliebter Stolzius (Michael Kraus) von Anfang an ein Gefangener seiner Mutter (Hanna Schwarz) ist, der später Opfer und Täter in einem wird: ein zweiter Wozzeck. Maries Vater, den mit der Soldateska verbandelten Tuchhändler Wesener, gibt Pavel Daniluk etwas grob, die bereits am Tropf hängende Grossmutter, die das schlimme Ende voraussieht, ist bei Cornelia Kallisch dagegen in allerbesten Händen. Und unter den Offizieren ragen der Desportes von Peter Hoare, der Philosoph Pirzel von Michael Laurenz und der Feldprediger Eisenhardt von Cheyne Davidson heraus.
Und wie das Denken in Reihen, das im Wesentlichen von Arnold Schönberg entwickelt und nach dem Zweiten Weltkrieg von der Darmstädter Schule zum Mass aller kompositorischen Dinge erhoben worden war, mit der Vergangenheit brechen wollte, so suchte Zimmermann – durchaus im Anschluss an Lenz, der das schon im 18. Jahrhundert postuliert hatte – die drei klassischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung aufzuheben. Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und, in Zimmermanns Worten, der «Kugelgestalt der Zeit» ist da die Rede.
Wohl wird die Geschichte einigermassen kausal erzählt, doch ist der narrative Strang angereichert durch zahlreiche Simultanszenen. Und ist die Partitur durchsetzt von Anklängen an Musik der Vergangenheit und Zitate, die weitere Bedeutungsebenen zum primären Geschehen beisteuern (was damals, 1965, verboten war und Zimmermann den Platz im innersten Zirkel der Avantgarde gekostet hat). Die Orgel zum Beispiel wird gern als Inbegriff des dissonant Dröhnenden, mithin Gewalttätigen eingesetzt; zugleich aber zitiert sie auch aus Bachs Matthäuspassion.
Klanggewalt
Tatsächlich, auch eine Orgel kommt vor in der enormen Orchesterbesetzung, die Bernd Alois Zimmermann für «Die Soldaten» vorgesehen hat. Es ist eine «Elektra»-Besetzung, aber erweitert durch ein vielstimmiges Schlagzeug – in keinem Orchestergraben findet das Platz, schon gar nicht in jenem von Zürich. Eine spektakuläre Lösung hat hier die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst gefunden. Die chinesischen Soldaten des Orchesters – auch der Dirigent trägt Tarnanzug – sind auf der Bühne postiert und wirken auf einer Stahlkonstruktion mit lautlos bewegten Brücken und Wagen.
Die Darsteller dagegen agieren auf dem zugedeckten Orchestergraben und kommen damit dem Publikum sehr nahe – das ist Teil der packenden Wirkung des Abends. Dazu kommen Videobildschirme auf der Bühne und im Zuschauerraum sowie eine effektvolle Verräumlichung des Klangs. Und wenn am Schluss, unter Verwendung der von Zimmermann erstellten Tonbänder, das Geschehen zu einem allgemein menschlichen wird und die Welt in einem tausendfachen Schrei untergeht, wird einem tatsächlich bang. Ein grosser Abend in der Geschichte des Opernhauses Zürich.