Bieitos Apokalypse ist eine Lärmorgie und ein Blutrausch

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (24.09.2013)

Die Soldaten, 22.09.2013, Zürich

Vor ihrer Uraufführung 1965 galt Bernd Alois Zimmermanns Oper «Die Soldaten» als unspielbar. Das Opernhaus Zürich startete seine Saison am Sonntag mit diesem Stück und gewann zum ersten Mal Calixto Bieito für die Regie.

Über die vier Leinwände flimmern Bilder von blutverschmiertem Gefieder gnadenloser Hahnenkämpfe, eine Ratte wird von Haar- nadeln durchbohrt und anschliessend von Maden zerfressen. Bieito was here! Der Skandalregisseur arbeitet nun auch am Zürcher Opernhaus. Auf der Bühne geht es nicht weniger blutig zu: Im Finale von Zimmermanns Oper zermalmt eine nukleare Apokalypse die Welt, und der Soundtrack dazu ist wahrhaft gewaltig: Das riesig besetzte Orchester genügt dafür längst nicht mehr, über zahlreiche Lautsprecher wird der Raum in eine Lärmorgie getaucht, die jedem Heavy-Metal-Konzert gut anstehen würde. Aber ausser ein paar Gipsputten, die zu Bruch gehauen werden, inszeniert der Spanier keine apokalyptische Zerstörung, sondern stilisiert seine Hauptfigur Marie in Kreuzigungspose. Blutüberströmt natürlich, aber ein insgesamt starkes Bild.

Unfreiwillige Komik

Ohnehin ist Bieito diesmal besser, wenn er symbolistische Bilder verwendet: Die Demütigung Maries durch die Gräfin, die ihr während ihrer von extremen Sprüngen durchsetzten Arie (Noëmi Nadelmann singt das hervorragend!) erst die Perücke, dann Dutzende von Haarnadeln vom Kopf reisst, ist weit eindringlicher als die sexuellen Aktionen, die in ihrem angedeuteten Realismus unfreiwillig komisch aussehen, oder die Orgien der besoffenen Soldaten, die einfach sehr schnell nur noch lächerlich hilflos wirken.

Aus dem Klassendrama um die Bürgertochter Marie vom Goethe-Zeitgenossen Jakob Michael Reinhold Lenz wird bei Bernd Alois Zimmermann entgegen der klassischen Einheit von Ort und Zeit und Handlung Simultan-Theater, in dem oft die zeitlichen und örtlichen Grenzen aufgehoben sind. Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst treibt diese Gleichzeitigkeit noch auf die Spitze, indem sie alles im gleichen Bühnenbild spielen lässt. Die Bühne wird dominiert von einem riesigen Stahlgestell, auf dem die verschiedenen Gruppen des sehr gross besetzten Orchesters platziert sind. Wir sind im Zentrum eines Machtapparats. Auch die Musiker spielen in Soldatenuniformen, der Dirigent Marc Albrecht steckt im Tarnanzug. Aber müsste sich nicht verstecken: Präsenz und Engagement sind spürbar, auch wenn schwer zu sagen ist, wie gut, präzis, partiturgetreu gespielt wird.

Grosser Respekt den Darstellern

Als Gesamteindruck bleibt vor allem die Bewunderung den Aufführenden gegenüber. Wie sich sämtliche Solisten, angeführt von der erstaunlichen Susanne Elmark, von Michael Kraus, Peter Hoare oder Oliver Widmer, in die horrenden Partien mit Engagement und Gewissenhaftigkeit einliessen, nötigt den grössten Respekt ab. Und es bleibt auch ein Eindruck von Diskrepanz in Zimmermanns Musik. Das Stück, das 1965 in Köln uraufgeführt wurde, wirkt musikalisch manchmal richtig altmodisch, vor allem in den Gesangslinien, die in ihrer ständig in extreme Lagen und weite Sprünge getriebenen Gestalt und krampfhaften Vermeidung von reinen Intervallen heute eher manieriert wirken, in anderen Momenten – in der gegenseitigen Durchdringung der Musikstile, im Einbezug von Jazz und Trivialmusik oder im Gebrauch des Orchesters als orgiastisches Lärminstrument – hingegen sehr modern.

Gewaltig ist das Ende: In einem gnadenlosen Kriegs-Crescendo zertrampeln marschierende Soldaten vom Tonband alles und jedes, was übrig geblieben ist. Sehr laut, sehr direkt, sehr lang und sehr quälend. «Und erlöse uns von dem Bösen» ist der letzte Satz, gesprochen vom Feldprediger. Er verhallt hoffnungslos. Das Reich und die Macht und die Herrlichkeit werden zermalmt unter den Ketten der Panzer. Eine gnadenlose Maschinerie, die alles niederwalzt – auch die blutüberströmte Marie, bei der trotz ihrer Kreuzigungspose sehr zweifelhaft bleibt, ob sie vielleicht doch Erlöserin sein könnte.