Bruno Rauch, Bündner Tagblatt (24.09.2013)
«Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann: Erstmals inszeniert Calixto Bieito am Zürcher Opernhaus. Und der erwartete Entrüstungssturm blieb aus.
Die erste Premiere vom Sonntag am Zürcher Opernhaus galt dem Klassiker der Moderne: Bernd Alois Zimmermanns Oper «Die Soldaten», basierend auf dem Sturm-und-Drang-Drama von Reinhold Jakob Michael Lenz. Es ist neben dem Verdienst, das epochale Werk erstmals in Zürich zu zeigen, ein cleverer Marketing-Schachzug, die Regie dem umstrittenen Calixto Bieito zu übertragen, der im Geruch steht, das Publikum mit Sex, Blut und Brutalität zu schocken. In der aktuellen Inszenierung jedoch gibt sich der wilde Katalane ziemlich gemässigt und schien wohl am Schluss selbst überrascht, dass ihm ungeteilter Applaus entgegenbrandete.
Er und die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst platzieren das Orchester sozusagen als Hauptakteur auf einem immensen, gelb gestrichenen Metallgerüst mit verschiedenen vertikal und horizontal fahrbaren Plattformen und Brücken. Über 120 Instrumentalisten sind gefordert, darunter eine mehrköpfige Schlagzeuggruppe sowie eine Jazz-Combo. Alle tragen Kampfanzug und Käppi – was nicht nur dem Werktitel entspricht. Auch die Aufgabe, welche die Philharmonia Zürich zu meistern hat, ist schierer Kampf: ein Ringen mit diffiziler Rhythmik, dynamischen Grenzgängen, klanglicher Radikalität.
Die ungewohnte Positionierung erweist sich als ausgesprochen intelligent und hilfreich. Sie erlaubt es, die Tektonik der vielfach geschichteten und collageartig gebauten Partitur erlebbar zu machen. Ihre komplexe Faktur wird so gleichsam aufgefächert, zumal der Dirigent Marc Albrecht seine Kohorten souverän im Griff hat und den Klang plastisch formt und strukturiert.
Kammerspiel und Bluttaufe
Neben ihren anspruchsvollen vokalen Partien sind die Sängerinnen und Sänger auch schauspielerisch gefordert. Ihnen, die ob ihrer grossen Anzahl hier nicht namentlich erwähnt werden können, gilt uneingeschränktes Lob. Im Gegensatz zum orchestralen Gigantismus und abgesehen von wenigen Massenauftritten der Soldateska vollzieht sich das Schicksal Maries in geradezu paradox minimalistischen kammerspielartigen Szenen. Nach Leben und Liebe gierend, wendet sie (Susanne Elmark: stimmlich und darstellerisch von bedingungsloser Hingabe) sich von ihrem Verlobten Stolzius (Michael Kraus: facettenreich und berührend) ab und wird so zum Opfer diverser Liebschaften – und, einmal der soldatisch-männlichen Triebwelt ausgeliefert, zu Schlimmerem. Dennoch ist es letztlich nicht das Einzelschicksal einer zutiefst erniedrigten, geschundenen Kreatur, die betroffen macht. Es ist das gesellschaftlich induzierte Machtgefüge, das die Ungeheuerlichkeiten auslöst. So ist denn auch die letzte öffentliche und von allen Akteuren sekundierte Vergewaltigung Maries nicht eigentlich ein sexueller, sondern ein soziokultureller Akt. Das Opfer wird anschliessend mit Blut übergossen: eine makabre Taufe mit dem Blut vergangener, gegenwärtiger und künftiger Generationen.