Musik aus der Kasernenwelt

Herbert Büttiker, Der Landbote (24.09.2013)

Die Soldaten, 22.09.2013, Zürich

Bernd Alois Zimmermanns «Die Soldaten» gelten als eine der grössten Herausforderungen für die Bühne. Das Opernhaus bestand auf dem Prüfstand und mit ihm das Publikum, das allen Beteiligten, auch Regisseur Calixto Bieito, grossen Applaus spendete.

Am dröhnenden Ende der Marsch in den Untergang unter gewaltigen Trommelschlägen, Kriegslärm von den Lautsprechern, zuletzt an der Schmerzgrenze ein kollektiver Schrei, aus dem sich ein langsam abschwellender Ton löst. Was Bernd Alois Zimmermann an Einsätzen für Filmprojektoren und Lautsprechergruppen exakt in die Partitur der «Soldaten» notierte, realisierte das Inszenierungsteam um den Dirigenten Marc Albrecht und den Regisseur Calixto Bieito im Opernhaus nicht im Detail und auch ohne die Wolke der Atomexplosion, die der Komponist am Schluss ins Bild gerückt haben wollte. Aber der Aufschrei, der sein «totales Theater» insgesamt bedeutet, war in der Wirkung so erschütternd, wie ein Aufschrei nur sein kann.

Zimmermanns Musik geht an die Grenzen, ein über hundertköpfiges Orchester mit einem enormen Schlagzeugapparat, mit Bühnenmusik, Jazz-Combo, mit Orgel und elektroakustischen Einspielungen sprengt gleichsam das Opernhaus. Aber es gibt nicht nur die Schichtung und Verdichtung der klanglichen Ereignisse bis zur Undurchdringlichkeit in der vielfachen Simultanszene im vierten Akt («Toccata III»), sondern auch eine unendliche Vielfalt ziselierter, zerbrechlicher Klänge zum Beispiel in der Romanza (dritter Akt) – beides lässt den Menschen von höchster Sensibilität dahinter ahnen.

Dem Bibelwort «Ich wandte mich und sah an alles Unrecht unter der Sonne» galt Zimmermanns letztes Werk, bevor er sich 1970 das Leben nahm, und gesehen hatte er vieles, als Wehrmachtssoldat, als Deutscher einer Nachkriegszeit, die das Geschehene im Wirtschaftswunder vergessen wollte, als Zeitgenosse des Kalten Kriegs. 1959 erhielt er den Kompositionsauftrag, in der Zeit des Mauerbaus und der Kubakrise steckte er mitten in der Arbeit, 1965 erfolgte, nach manchen Schwierigkeiten und dem Verdikt «unspielbar», die erfolgreiche Uraufführung in Köln.

Komödie und Apokalypse

Mit dem Stück «Die Soldaten», das der Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz als Komödie bezeichnete, wählte Zimmermann einen Text, dem das apokalyptische Finale nicht eingeschrieben ist. Drastisch allerdings zeigt es die Verführung der Bürgertochter Marie, die von Baron Desportes, einem Offizier der Garnison, umgarnt, dann fallen gelassen beziehungsweise weitergereicht wird und die, zur «Soldatenhure» gemacht, schliesslich vergewaltigt in der Gosse liegen bleibt. Stolzius, der von Marie verratene und von den Offizieren verspottete Verlobte, vergiftet Desportes und sich selber. Zynismus, Triebhaftigkeit, Standesdünkel der Offiziere, Unterwürfigkeit und Schielen auf Aufstiegschancen bei Marie und ihrem Vater: In solchen Allerweltsverhältnissen fand der Komponist offenbar den Zündstoff für den atomaren Weltuntergang, dessen Bild damals ja nicht bloss eine Chiffre war.

Die Inszenierung im Opernhaus lässt die Welt nicht untergehen, ein Bild aber bleibt zeitlos stehen. Von Blut übergossen steht die vergewaltigte Marie da mit den ausgebreiteten Armen des Gekreuzigten. «Die Soldaten», in denen Bach-Choräle eine bedeutsame Rolle spielen, sind eine neue, diesmal weibliche Passionsgeschichte, am Ende eine Erzählung ohne Worte: Der klagenden Schwester der Marie wird die Zunge aus dem Mund geschnitten.

Spiessbürger und Kaserne

Ja, auch in dieser Inszenierung mutet der dafür berüchtigte Regisseur dem Publikum Unerträgliches zu, aber hier ist seine Bildsprache genau, korrespondiert mit einer schmerzlich heftigen Musik. Die Regie trifft im Grundsätzlichen, und sie ist lesbar im Detail der in die Entstehungszeit der Oper transferierten Handlung und in der zugespitzten Charakterisierung der Figuren, die ein grossartiges En­sem­ble realisiert.

Die rhythmisch komplexe, in Intervallsprüngen gespreizte Sprachvertonung macht die Darsteller zwar sehr von der Zeichengebung des Dirigenten und des Souffleurs abhängig. Dennoch gibt es ausdrucksvolles Schauspiel bis zur rücksichtslosen Entäusserung. Mit unerhörter sängerischer Gelöstheit verbunden, gilt dies an der Spitze des grossen En­sem­bles zumal, aber nicht nur für Susanne Elmark als Marie, die ihren weiten Weg als lebenslustig-kokettes Mädchen der Sixties beginnt.

Pavel Daniluk als Maries autoritärer und gleichzeitig schwacher Vater, Julia Riley als die verhärmte ältere Schwester, Michael Kraus als verzweifelter Stolzius, Hanna Schwarz als dessen Mutter geben die spiessbürgerlichen Porträts jener Zeit ab, Peter Haare als Desportes, Oliver Widmer als Mary und weitere stehen für die roh sexualisierte Kasernenwelt voller Männerrituale, die vom pseudophilosophischen Geschwätz bis zum Ringkampf im Schlamm reichen. Negativfiguren sind selbst der junge Graf (Dmitry Ivanchey) und dessen Mutter (Noëmi Nadelmann), die Marie retten möchten.

Alles Wüste, alles Verzweifelte rückt die Inszenierung über dem zugedeckten Orchestergraben nah und frontal ans Publikum heran. Für das riesige Instrumentarium ist dafür der Bühnenraum frei, auf der die spektakuläre Stahlkonstruktion mit Podesten, Hebebühnen und Stegen von Rebecca Ringst eingebaut ist – Abbild einer kalten, mechanistischen und dabei an Piranesis «Carceri» erinnernden Welt und gleichzeitig auch der ja unerhört komplex organisierten Partitur. Dass die Musiker in Soldatenuniformen spielen, ist nicht nur dem Schauplatz geschuldet, sondern einer Musik, die einer Welt, die zur Kaserne geworden ist, den Spiegel vorhält.

Sprengkraft

Das Klanggeschehen wirkt im Bühnengehäuse etwas hermetisch und distanziert. Das mag die unmittelbare Wirkung des farbigen instrumentalen Geschehens etwas dämpfen, gibt dafür aber den Sängern akustischen Freiraum. Umso überwältigender sind die Momente, wenn der Klang den Bühnenraum aufzusprengen scheint. Und dar­um geht es eben auch. Dass am Ende am Bühnenportal die Putten aus Gips heruntergeschlagen werden, macht auch visuell klar, dass hier die Oper schlechthin auf dem Prüfstand steht (wie es im Stück von Lenz auch um das Theater geht). Indem sie in aller Negativität, die ihr Zimmermann zumutet, ihren humanen Auftrag erfüllt, und sei es auch nur im Schrei, zeigt dieses Werk von einem äussersten Punkt aus, was die Gattung Oper und ihren Wert ausmacht. Auch in dieser Beziehung ist das kleine Zürcher Haus mit dieser Produktion ganz gross.