Eine geschundene Heldin des Leidens

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (24.09.2013)

Die Soldaten, 22.09.2013, Zürich

Bernd Alois Zimmermanns Oper «Die Soldaten» spektakulär am Opernhaus Zürich

Diese Oper, erst für unspielbar erklärt und 1965 mit grossem Aplomb vom ­Dirigenten Michael Gielen in Köln zur Uraufführung gebracht, müsste eigentlich «Marie» heissen. Marie – schon in Büchners «Woyzeck» und Bergs «Wozzeck» hiess die Soldatenbraut so – ist die Geschundene in diesem auf den Sturm-und-­Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz zurückgehenden Stück des deutschen Komponisten Bernd Alois Zimmermann. Eine Frau, die von der umworbenen Braut zur Strassendirne wird – dazu gemacht wird, wie Lenz 1775 hellsichtig und im Vorgriff auf spätere soziologische Denkmuster erkannte. Eine Heldin des Leidens, eine Prophetin des Untergangs.

Zimmermann, der 1970 in den Tod ging, ist der grosse Tragische in der ernsthaften Musik der Nachkriegszeit. Doch so sehr ihm die Verzweiflung auch eingeschrieben war: Seine zugleich wüsten und hoch differenzierten «Soldaten» sind das Erfolgswerk der modernen Oper, ein Muster an Komplexität, Anspruch, Verstiegenheit. Letztes Jahr mit grossem Succès bei den Salzburger Festspielen aufgeführt (und vor 15 Jahren am Theater Basel), fordert dieses Werk immer wieder zu neuen Realisierungen heraus – trotz oder gerade wegen seines personellen, organisatorischen und intellektuellen Aufwands.

Die Tiernatur des Menschen

Jetzt hat sich der katalanische Regis­seur Calixto Bieito, seit Neuestem «Artist in residence» am Theater Basel, am Opernhaus Zürich des zweieinhalbstündigen Monumentalwerks angenommen. Er platziert das von Marc Albrecht und einem Subdirigenten souverän geleitete Ensemble mitsamt Jazzcombo und E-­Gitarre auf einem Metallgerüst auf der Bühne, das an ein Gefängnis erinnert (Bühne: Rebecca Ringst). Die dramatischen Szenen spielen sich auf der Vorderbühne ab, zum Vorteil der Textverständlichkeit.

Filmszenen neben und hinter dem Orchester stimmen ein auf Gewalt, Blut und die Tiernatur des Menschen. Ein Kampfhahn, eine von Milben übersäte tote Ratte, ein Damenslip (Video: Sarah Derendinger) – eindringliche Symbolisierungen dessen, was sich auf der Bühne abspielt. Die grosse Schlagzeugergruppe spielt auf einem Bühnenwagen, der bei Gelegenheit effektvoll an die Rampe gefahren wird. Die in Kampfanzüge gesteckten Musiker werden zu szenischen Akteuren. Verschiebungen gibt es auch in der Vertikalen. So verkündet der Feldprediger Eisenhardt seine humane Predigt («Eine Hure wird niemals eine Hure, wenn sie nicht dazu gemacht wird») im Schlussbild wie von einer Kanzel herunter. Trotz dem durch das Riesenorchester mit 120 Mitwirkenden beengten Raum ergeben sich beklemmende szenische Effekte.

Unter der Blutdusche

Das liegt auch an der Personenführung Calixto Bieitos, die alle Merkmale seines Blut-und-Hoden-Theaters aufweist. Männer quälen sadistisch andere Männer, gehen ihnen roh an die ­Wäsche, prunken mit phallischen Symbolen, lassen sich fellationieren. Marie (Susanne Elmark mit totaler Hingabe an Musik und Rolle) ist zuerst ein aufreizendes Girlie, das vom Baron Desportes (tenoral glänzend: Peter Hoare) ­voyeuristisch gefilmt wird. Ihr Vater Wesener (Pavel Daniluk) geizt nicht mit Zärtlichkeiten seiner Tochter gegenüber, die auch mal den Oberkörper entblösst («das Herz ist mir so schwer»). Am Ende wird sie zum Sex gezwungen und mit einem Kübel Blut übergossen.

Neben den Hauptpartien fallen glänzende Charakterstudien wie die von Noëmi Nadelmann als pelzbemäntelte lüsterne Gräfin und Cornelia Kallisch als todkranke Mutter Wesener auf, ebenso wie der Feldprediger des deutlich artikulierenden Baritons Cheyne Davidson. Und neben allen steht da der erste Mann Maries, der Tuchhändler Stolzius auf der Bühne (mit enormer Präsenz: ­Michael Kraus). «Der philosophiert sich zu Tode», sagt der Pfarrer über diesen Geistes- und Schicksalsverwandten des armen Woyzeck.

Am Ende, das Zimmermann mit dem Atomschlag verband, markiert ein Aufschrei aller das Ende des Stücks, aber nicht das Ende der menschlichen Katastrophen. – Heftiger Applaus für ­eine formidable Ensembleleistung.