Herzzerreissender Aufschrei des gequälten Menschen

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (24.09.2013)

Die Soldaten, 22.09.2013, Zürich

Oper Grosstat des Opernhauses Zürich: Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» in einer Aufführung, die unter die Haut geht

Calixto Bieito ist im Opernhaus Zürich angekommen. Seine aufwühlende Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns Oper «Die Soldaten» wurde vom Premierenpublikum bejubelt. Ebenso Marc Albrechts Dirigat, wie die herausragende Leistung des Solistenensembles, des Chors und der Philharmonia Zürich. Der oft als Skandalregisseur gehandelte Katalane ist der richtige Mann für Zimmermanns epochales Werk (1958–1965), mit dem dieser gegen das unfassbare Grauen des 20.Jahrhunderts angeschrieben hat. Bieito dringt in dunkelste Abgründe menschlichen Seins und damit in die tiefsten Winkel von Zimmermanns freitonaler Musik. Diese schichtet unterschiedliche Sequenzen übereinander, ist mal brachial, mal intim berührend.

Meilenstein der Moderne

Textgrundlage der Oper ist das gleinamige Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz (1776). Die Bürgerstochter Marie träumt von der grossen Liebe zu einem Offizier, wird von ihm verführt, ausgenutzt und als Hure weggeworfen.

Es ist eine Grosstat des Opernhauses, dieses Werk – welches das Musiktheater verändert hat, aber auch jedes Haus an seine Grenzen führt – auf die Bühne zu bringen. Nach der Erstaufführung 1998 in Basel ist dies erst die zweite in der Schweiz. Die musikalisch wie szenisch künstlerisch grandiose Produktion wird Theatergeschichte schreiben.

Schon der Bühnenraum von Rebecca Ringst ist ein genialer Wurf. Das 120-köpfige Orchester ist auf der Bühne platziert. Die Musikerinnen und Musiker sind als Soldaten auf einer grossen Stahlkonstruktion verteilt. So entfaltet die Musik ihre ganze klangliche Kraft. Das Stahlgestell assoziiert ein Soldatenlager und hat etwas Beängstigendes. Wie aus der Hölle kommen daraus die Sängerdarsteller auf die Spielfläche. Hier fügt Bieito die unterschiedlichen Erzählebenen schlüssig in- und aneinander.

Bieito liest das apokalyptische Werk als Parabel des Grauens einer heutigen Gesellschaft, die im Alltag gewalttätige soldatische Männerriten lebt. In Sauforgien suhlen sich die Männer in ihrer perversen Triebwelt, schinden Menschen aus Lust am Quälen. Zum sadistischen, sexuell aufgeladenen Tanz spielt schauererregend die Jazzcombo auf.

Auf das Treiben der kaputten Menschheit schaut Bieito durch die Augen eines Kindes, das verträumt die Welt betrachtet – stark das meist live eingespielte Video von Sarah Derendinger. Doch die brutale Männergesellschaft zerstört alle Träume, die von Marie, ihrer Schwester Charlotte und von Maries Verlobtem Stolzius. Schon im Elternhaus sind die Töchter Opfer des Missbrauchs. Die Familie bietet nicht Schutz, sie ist Horror. Die Offiziere nutzen Marie als Lustobjekt, der adelige Desportes verführt sie, indem er sie filmt. Er sieht sie als aufreizendes Bild und wirft sie nach dem Genuss weg, wie man verfügbare Bilder in den Abfall kippt.

Packend in Spiel und Gesang

Das 21-köpfige Ensemble und der Chor gehen in Spiel und Gesang an die Grenzen. Die Sopranistin Susanne Elmark meistert bravourös die Intervallsprünge, gibt alle Facetten der verträumten wie leidenden Marie. Stark auch Julia Riley als ihre Schwester Charlotte. Mit kraftvollem, farbenreichem Bariton gibt Michael Kraus als Stolzius ein berührendes Rollenporträt. Peter Hoare mimt mit markantem Tenor Deportes in seiner ganzen Arroganz. Grossartig auch Hanna Schwarz als Stolzius’ Mutter und Noëmi Nadelmann als kaputte, versoffene Gräfin de la Roche. Alle Darsteller leuchten die Abgründe ihrer Figuren radikal aus.

Marc Albrecht und die Philharmonia gestalten die ausserordentlich schwierige Musik perfekt, packend und stets durchhörbar. Auch am Schluss: Marie wird vergewaltigt. Das Mädchen auf dem Video weint und blutet. Aus Lautsprechern dröhnt der Aufmarsch der Armeen, die jegliche Menschlichkeit niedertrampeln. Dagegen setzt die Musik den lauten, herzzerreissenden Aufschrei des gequälten Menschen. Die mit Blut übergossene Marie schreit mit erhobenen Armen. Ein ikonenhaftes Bild, das uns an spanische Meister erinnert und Zeichen ist für den verzweifelten humanistischen Appell dieses grossen Theaterkunstwerks.