Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (24.09.2013)
Starker Start in die Zürcher Opernsaison: Bernd Alois Zimmermanns einzige Oper «Die Soldaten» ist ein erschütterndes Stück - und Calixto Bieito ein Regisseur, der weiss, wann Zurückhaltung angebracht ist.
Im Kampfanzug sitzen die Musiker auf der Bühne, ihre Waffen sind ihre Instrumente, und das ist nicht metaphorisch gemeint. Bernd Alois Zimmermanns epochale Oper «Die Soldaten» von 1965 ist kein Feierabend-Vergnügen, sondern eine brutale Attacke auf die Zustände der Welt, ein verzweifelter Versuch, existenziellen Ängsten etwas entgegenzusetzen. Erzählt wird zwar nach der Sturm-und-Drang-Vorlage von Jakob Michael Reinhold Lenz eine schlimme Geschichte über eine junge Frau und einen jungen Mann. Aber es geht dabei um nichts weniger als um die Menschheit als Ganzes und das Böse an sich.
Es mag ja sein, dass Rebecca Ringsts Bühnenlösung mit dem gelben Gerüst für das Orchester zunächst eine pragmatische war. Denn eigentlich ist das Zürcher Opernhaus zu klein für dieses Werk - rund hundert Musiker sind zu platzieren, das Schlagzeug allein würde den Orchestergraben fast füllen. Aber der Notfall wird hier zum Glücksfall: weil man sieht, was in diesem Orchester abgeht. Weil sich zwischen den Sängern und dem Publikum für einmal kein Graben auftut. Und weil der Regisseur so kein eigentliches Bühnenbild brauchte und sich ganz ohne dekorativen Rahmen den Figuren widmen konnte.
Je härter, desto leiser
Der Regisseur ist der Katalane Calixto Bieito, der gern mit viel Theaterblut hantiert; etliche Premierenbesucher haben ihre Plätze deshalb vorsorglich frei gelassen. Das wäre allerdings nicht nötig gewesen, denn mit den «Soldaten» und seinem Zürcher Debüt bestätigt der sogenannte Skandalregisseur einmal mehr jene Regel, die er schon seit einer Weile zu befolgen scheint: Je härter das Werk, desto leiser wird Bieito.
Hier ist nun die Geschichte von Marie Wesener zu erzählen, der Tochter eines Galanteriewarenhändlers, die eigentlich den Tuchhändler Stolzius liebt. Aber da sind auch ein uniformierter Baron Desportes und die Aussicht, das Glück «besser machen zu können». Da ist, nachdem Desportes abgehauen ist, ein Major Mary, der seine Stelle einnimmt. Da ist die Gräfin de la Roche, die nicht will, dass ihr Sohn mit «so einer» etwas zu tun hat. Da sind die Soldaten, die Marie als jene Hure behandeln, als die sie nun gilt. Und da ist schliesslich der Vater, der seine eigene Tochter nicht mehr erkennt.
Man könnte diese Geschichte nun, gerade wenn man Bieito heisst, mit allerlei deftigen Verführungsszenen garnieren, auch Maries Vergewaltigung gäbe optisch bestimmt einiges her - und man könnte sich jederzeit darauf berufen, dass das alles in Lenz’ Text und Zimmermanns Musik steht. Aber eben, es steht da, und Bieito ist klug und anständig genug, auf szenische Verdoppelungen zu verzichten. Marie wird von den anderen Figuren erniedrigt, aber nicht vom Regisseur. Was es zu sehen gibt an sexueller und anderer Gewalt, das zeigt Bieito streng stilisiert: Da liegt ein Schlüpfer auf dem Boden (nur auf Video). Ein Frauenkopf wird vor einer Männerhose festgehalten. Ein Lippenstift verrutscht. Das Schlimmste, was Marie geschieht, ist, dass die Gräfin de la Roche ihr die künstlichen blonden Locken vom Kopf montiert. Dass man kaum hinschauen kann bei dieser gänzlich unblutigen Szene, sagt alles über die Wucht dieser Aufführung.
Brutal, aber nicht plakativ
Da gibt es keine Bewegung zu viel, auch keine falsche, klischierte Bewegung. So können sich die Sängerinnen und Sänger ihren Rollen ausliefern, wie man es in der Oper selten sieht. Vor allem Susanne Elmark als Marie reisst einen mit in ihre Verzweiflung: Man möchte sie schütteln, wenn sie im mädchenhaften Faltenjupe kokette Gesten ausprobiert, wenn sie sich hineinsteigert in Hoffnungen, die doch nur Enttäuschungen versprechen. Und man möchte sie festhalten, wenn sie stürzt, immer weiter nach unten, bis sie nicht mehr aufstehen kann (nebenbei möchte man auch noch den Kostümbildner Ingo Krügler loben und prügeln für das pinke Fähnchen, das den Faltenrock in Laufe des Abends ersetzt).
Wie man bei dieser darstellerischen Intensität auch noch singen kann, ist ein Rätsel, aber Susanne Elmark kann es. Ihr Sopran ist leicht und stark und hochemotional, sie findet Linien in einer Partitur, in der die Töne vor allem punktuell gesetzt sind. Das schaffen auch andere: Michael Kraus als Stolzius etwa, der auf sonore Weise anständig bleibt (und nach Desportes pflichtbewusst sich selber vergiftet). Und Pavel Daniluk als Vater Wesener klingt geradezu gemütlich, manchmal; dann wieder ist da eine Härte in seinem Bass, dass es einen schaudert.
Auch Maries Verführer, Verräter und Vergewaltiger wissen mit Nuancen zu spielen, szenisch wie vokal. Die schneidigen Spitzentöne von Desportes (Peter Hoare), das böse Lachen von Major Mary (Oliver Widmer), die giftigen Heucheleien der Gräfin de la Roche (Noëmi Nadelmann), das Geschrei der Soldaten: Sie fügen sich zu einem Klangbild, das brutal ist, aber nicht plakativ.
Einer für sieben Dirigenten
Die Wirkung ergibt sich aus der Präzision, nicht beim Draufhauen: Das weiss auch Marc Albrecht. Der 49-jährige Chefdirigent der Nederlandse Oper in Amsterdam führt «Die Soldaten» in Zürich erstmals auf - und hat die hochkomplexe Partitur in bewundernswerter Weise im Griff.
Diese Komplexität war kein künstlerischer Selbstzweck, sie war Bernd Alois Zimmermanns Antwort auf die Katastrophe, als die er seine Zeit empfand: Wo alles zusammenzubrechen droht, müssen auch die Grenzen der Gattung Oper gesprengt werden. Sieben Dirigenten wären ursprünglich vorgesehen gewesen für dieses Werk, das die Töne wie die Tempi in Reihen strukturiert, das Bach-Zitate, Jazz-Episoden und elektronische Zuspielungen einbaut und immer wieder an Alban Bergs «Wozzeck» erinnert: in der albtraumhaften Folge der (teilweise simultan ablaufenden) Szenen ebenso wie in der Gründlichkeit, mit der die Hauptfigur kaputtgemacht wird. Auch nach der Bearbeitung für einen einzigen Dirigenten lehnten Wolfgang Sawallisch und Günter Wand «Die Soldaten» als unspielbar ab. Michael Gielen hat dann mit der Kölner Uraufführung das Gegenteil bewiesen, aber bis heute ist das Stück eine Herausforderung, die das Übliche weit übersteigt.
Bei Marc Albrecht und der grossartigen Philharmonia Zürich hört man nun, soweit das überhaupt möglich ist, was in den verschiedenen Schichten dieser Partitur geschieht; vor allem aber, wie sich Lärm und Stille, Geräusche und verwehte Melodien, gezackte Linien und hartnäckige Zentraltöne zu einem Ganzen fügen. Atemlos sitzt man da - bis zur finalen Apokalypse, bei der Zimmermann einen Atompilz zeigen wollte, bis zum Kessel voller Theaterblut, der nun doch noch über Marie ausgeleert wird. Aber das ist nur noch eine Art Ritual, die Opferung ist längst vollzogen.
Dass Susanne Elmark zuletzt, wenn ein spürbar erschüttertes Publikum zu applaudieren beginnt, fast ausrutscht auf diesem Blut: Das ist eine grimmige Pointe nach einem Abend, bei dem es szenisch wie musikalisch keinen einzigen Ausrutscher gibt.