Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (05.11.2013)
Der deutsche Regisseur Jan Philipp Gloger hat für die «Faust»-Oper von Charles Gounod zum ersten Mal in Zürich inszeniert. Die Premiere vom Sonntag im Opernhaus zeigte eine stimmige, aber auch etwas brave Inszenierung.
Offenbar ganz gut situiert, eine hübsche Frau, drei wohlgeratene Kinder, die gleich zur Schule aufbrechen: Dieser Faust hat eigentlich wenig Grund, unglücklich zu sein. Schon gar nicht, wie bei Goethe, aufgrund stockenden Erkenntnisgewinns und philosophisch-naturwissenschaftlicher Frustration. Da scheint sich eher die Midlife-Crisis anzubahnen, die Sehnsucht nach Jugend und die dumpfe Frage: Ist das schon alles gewesen, was das Leben zu bieten hat?
Treffendes Gesellschaftsporträt
So gehts vielen Männern, heute, und auch damals, im zweiten Kaiserreich Frankreichs, zur Zeit, als Gounod sich an den «Faust»-Stoff wagte. In dieser bürgerlich-industriellen Aufbruchstimmung siedelt Jan Philipp Gloger seine Inszenierung zwischen Eisenträger-Ästhetik und Moulin Rouge an. Es gelingt ihm ein treffendes Porträt der damaligen Gesellschaft zwischen bürgerlich-kirchlicher Moral und den aufkommenden Etablissements, die zu Tanz, Sünde und Vergnügen la- den.
Mephisto, wie ihn Gloger zeichnet, ist kaum mehr als ein kleiner Scharlatan, der ohne viel satanisches Brimborium genügend Verwirrung stiftet, um im Wirtshaus Eindruck zu schinden, Margarethe zu blenden und Valentin so abzulenken, dass er von Faust getötet werden kann. Tot ist auch Gretchen am Ende, die bühnenwirksam mit der Guillotine hingerichtet wird. Und Faust? Nun ja, der kehrt nach seinem Seitensprung reumütig in den Schoss seiner Familie und die Gemeinschaft der bürgerlichen Doppelmoral zurück.
Sänger auf Gesang konzentriert
Diese Schlussszene war das Böseste, was Gloger dem Publikum vorsetzte. Passend auch, dass die Geisterstimme, die Marguerite aus der Kirche weist, von niemand anderem, als dem als Jesus verkleideten Mephisto gesungen wird. Gestrafft wurde die Walpurgisnacht, gestrichen Gretchen am Spinnrad (das hat Gounod erlaubt). Ansonsten blieb Glogers Inszenierung bei vielen guten Ansätzen doch einigermassen lauwarm, vorhersehbar und erstaunlich konventionell in ihrer Bildersprache. Seiner Personenführung ist generell die Schulung am Schauspiel anzusehen, sie ist detailliert und individualisiert, aber litt an der Premiere vom Sonntag im Opernhaus auch ein wenig an der sichtlichen Nervosität der meisten Sänger, die sich lieber auf die Klippen ihrer Gesangspartien konzentrierten als die Details ihrer Figuren wirklich überzeugend zu spielen.
Am wenigsten galt das sängerisch wie schauspielerisch für den Mephisto von Kyle Ketelsen. Der amerikanische Bariton setzte sich mit viel Lust für seine Partie ein und bewies die grösste Souveränität, den freisten Umgang mit Farben, Ausdrucks nuancen und Stilmitteln. Auch Anna Stéphany überzeugte mit sängerisch sehr ansprechend gestalteten Auftritten als Siébel. Bei der Marguerite von der Amerikanerin Amanda Majeski kam sowohl in der stimmlichen Ausprägung wie im ausdrucksstarken Gestus viel Gutes und Passendes zusammen. Allein ihr flackerndes Vibrato beeinträchtigte den klanglichen Eindruck doch etwas zu stark, um als reiner Schönheitsfehler durchzugehen.
Mit der Titelrolle überfordert
Ein wenig blass blieb Elliot Madore als Valentin, und überfordert war Pavol Breslik in der Titelrolle: Sein Faust gewann kaum wirklich tenorales Format, seine Stimmfarben blieben monochrom trotz vielfältiger emotionaler Wechselbäder, die Gounod dieser Rolle zugestand. Das Potenzial des slowakischen Tenors wurde zwar spürbar, aber an Arbeit in der Ausgestaltung der Partie und überhaupt im französischen Fach, wo Farben und Sprachnuancen sehr wichtig sind, wäre noch einiges zu leisten.
Solid und souverän agierte dafür Patrick Lange an der Spitze eines klanglich geschlossen aufspielenden Opernorchesters. Langes Kontakt zur Bühne ist geradezu vorbildlich, reaktionsschnell und dynamisch – überaus achtsam trug er die Sänger durch die Partien und liess auch in seinen geschmeidigen Tempi weder Stress noch allzu süsses Schwelgen aufkommen. Der Zürcher Opernchor bewies in den zahlreich und dankbar eingestreuten Massenszenen einmal mehr sein Format und seine Klangkultur.