Herbert Büttiker, Der Landbote (05.11.2013)
Für Gounods «Faust» taucht das Opernhaus die Bühne in sorgfältig und schön gestaltetes Schwarz-Weiss mit vielen grauen Zwischentönen. In diesem Bereich hält sich auch die Begeisterung für die Aufführung des in allen Rollen debütierenden Ensembles.
Der Faust-Walzer, Margarethes «Juwelenarie», Valentins Gebet und, und, und: Fast sämtliche Nummern von Charles Gounods «Faust»-Oper, die allein in Paris seit ihrer Uraufführung 1959 Tausende von Aufführungen erlebt hat, sind zu Wunschkonzerthits geworden.Dazu gehört auch der Soldatenchor – und damit der flotte Marsch, der nun im Opernhaus gleichsam die Wachtablösung für die sperrigen «Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann besorgt.
Allerdings wird gehumpelt, was das Zeug hält, denn das Regieteam um Jean Philipp Gloger mit Ben Bauer (Bühnenbild), Karin Jud (Kostüme) und Franck Evin (Lichtgestaltung) lässt in seiner bildschönen, malerisch belichteten und stilvoll im 19. Jahrhundert angesiedelten Inszenierung nicht vergessen, dass Soldaten ramponiert vom Schlachtfeld kommen. Der satirische Fingerzeig mag etwas platt wirken, raffinierter zeigt er sich in der grossen Volksszene des zweiten Aktes. Vergnügungssucht und Bigotterie, so zeigt sich von Beginn weg, gehören zusammen. Stellvertretend macht es Valentin (Elliot Madore) vor, der sein Gebet mit der Flasche in der Hand torkelnd vorträgt (auch sängerisch gebührend roh). Clever dann, wie sich dank Méphistophélès’ Zauberei die Szenerie in eine glitzernde Amüsierbude verwandelt, wo Marguerite als Serviererin arbeitet. Da geht es zu Cancan (im Walzertakt) hoch zu und her – wie später dann im gegenteiligen Sinn, wenn zur Walpurgisnacht-Musik (ein stark gekürztes Bild) das «gefallene Mädchen» gemobbt wird.
Rollendebüts für alle
Chor, Tänzer, Statisten werfen sich mächtig ins Zeug, musikalisch zunächst allerdings nicht immer à point mit dem Orchester, dieses auch nicht immer sehr präzis, von Patrick Lange aber sinnlich und den solistischen Bläsern viel Raum lassend dirigiert. Für das gesamte Ensemble war die Premiere das Rollendebüt, und gewiss hat es sein Potenzial noch nicht ganz ausgeschöpft. Gute Figur zeigen alle, auch in den Nebenpartien: Irene Friedli als Marthe, Erik Anstine als Wagner. Einen äussert souveränen Eindruck machten Anna Stéphany als warmherziger Siébel und Kyle Ketelsen als durchtriebener Méphistophélès.
Gounod, der als junger Mann erwog, die Musiker- zugunsten der Priesterlaufbahn aufzugeben, komponierte mit der Kirchenszene, in der Méphistophélès die Messe zelebriert und Marguerite verdammt, eine überraschend böse Szene, und gerade da trifft auch die Inszenierung ins Schwarze, die hier Méphistophélès nicht nur als Kirchenmann, sondern als Christus selber auftreten lässt. Kyle Ketelsen hat für diese Szene nicht nur den schwarzen Bassbariton, sondern für die grandiose Partie insgesamt auch die überaus wendige Eleganz im Gesang und Spiel, mit der er die Bühne beherrscht.
Ein Höhepunkt seines Wirkens allerdings wird ihm auf der Zürcher Bühne vorenthalten. Die kurze Szene, in der Méphistophélès die betörende Nachtszenerie für das Liebesduett von Faust und Marguerite heraufbeschwört, ist gestrichen. Die beiden sind hier eben nicht Opfer des diabolischen Zynikers. Faust selber ist Zyniker genug, die Rolle des Liebhabers mehr zu spielen als zu erleben. Im innigsten Gefühlsüberschwang des Duetts lässt er sich vom erotischen Treiben einiger Paare im Park ablenken.
Die Inszenierung versteht Gounods Faust als Mann und Bourgeois in der Midlife-Crisis auf doch reichlich halbherziger Flucht – ohne Verjüngungszauber – aus den geregelten Verhältnissen mit Frau, Kindern und silbernen Kerzenleuchtern auf dem Tisch. Dass er kein sehr charismatischer Liebhaber ist, hat so gesehen weniger mit dem Interpreten Pavol Breslik zu tun, der diesen Faust mit schlankem Tenor musikalisch sensibel, aber noch etwas vorsichtig angeht. Wenn das Liebespaar hier nicht in der allumfassenden Erfüllung aufgeht, die Gounods Musik verspricht – und mit dem metaphysischen Gelächter des Teufels konterkariert –, so entspricht das einer Regie, der es nicht um Himmel und Hölle geht, sondern um das Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse. Zum innigen Orchesternachspiel der Duettszene tritt hier der Chor auf, um obsessiv und stumm die Vereinigung zu beäugen.
Ungleiches Schicksal
Mit dem unromantischen Blick der Inszenierung hat konsequenterweise auch Marguerite zu leben, ein Mädchen im Alltagsgrau. Kein Scheinwerferglanz fällt auf sie, man sucht sie in der Menge. Amanda Majeski gibt der unscheinbaren Figur aber mit hellem, vibratoreichem Klang lyrische Zartheit, im vierten und fünften Akt auch die Intensität der gequälten Seele. Dass ihr Sopran zur Apotheose, die ihr Gounod gönnt, die Himmelspforten öffnen würde, wäre allerdings zu viel gesagt. Da sich die Inszenierung auch hier an die Realität hält, bleibt für die Kindsmörderin nur das Fallbeil der Guillotine, und auch in diesem Punkt ist Glogers Regie präzis. Präzis auch darin, dass sie Faust, wenn auch ziemlich geknickt, wieder seiner Familie gegenübertreten lässt.