Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (05.11.2013)
Neuinszenierung von Charles Gounods «Faust» am Opernhaus Zürich
In seiner ersten Regiearbeit für das Opernhaus Zürich zeigt der Regisseur Jan Philipp Gloger Gounods «Faust» als Liebestragödie, die sich vor dem Hintergrund einer bürgerlichen Doppelmoral im Second Empire abspielt.
Wer ist dieser Faust? Während die Ouvertüre erklingt, erfahren wir etwas über seine Herkunft: Zuerst allein auf der kahlen Bühne, sieht er sich plötzlich in seiner Wohnung an einem mit prächtigen Kerzenleuchtern ausgestatteten Tisch seiner Ehefrau gegenüber. Diese liest in einem Buch und nimmt kaum Notiz von ihm, auch die drei Kinder, die ihm ihre Aufwartung machen, scheinen keine Beziehung zu ihm zu haben. Angewidert vom Reichtum und von der «Familienidylle», schielt er nach den lebenslustigen Figuren, die im Hintergrund an ihm vorbeiziehen und ihn anlocken.
Weg von Goethe
Man muss von Goethe wegkommen, um zu Gounod zu gelangen. Die «Faust»-Geschichte, welche die beiden Librettisten Jules Barbier und Michel Carré für den Komponisten zusammengestellt haben, lehnt sich zwar in den Grundzügen an die bekannte Tragödie des deutschen Klassikers an, setzt indes deutlich andere Akzente. Faust erscheint bei Gounod nicht als der Forscher, der alle Wissenschaften studiert, um zu erkennen «was die Welt im Innersten zusammenhält». Nein, er sucht den Genuss, und als Méphistophélès ihn nach seinen Wünschen fragt, nennt er drei Dinge: «jeunesse», «plaisirs» und «les jeunes maîtresses».
Jan Philipp Gloger geht noch einen Schritt weiter. Der 32-jährige deutsche Regisseur deutet Fausts Genusssucht als das Lebensgefühl der bürgerlichen Oberschicht im französischen Second Empire, der Entstehungszeit von Gounods «Faust». Marguerite dagegen stammt bei ihm aus der Unterschicht. Faust begegnet ihr erstmals in einem Vergnügungslokal – es könnte das «Moulin rouge» sein –, wo sie als Kellnerin arbeitet.
Den Gegenpol zur Genusssucht bildet die scheinheilige Moral der dargestellten Gesellschaft, die durch die Gebote und Verbote der katholischen Kirche geprägt ist. Deutlich zeigt das der Regisseur am Verhalten des Chors, der die Rollen von Soldaten, Studenten, jungen Mädchen, Bürgerinnen und Bürgern ausfüllt. Dieselben Personen, die sich in den Vergnügungslokalen herumtreiben, sich in der Schenke betrinken und auf Geheiss von Méphistophélès die Kopulation von Faust und Marguerite begaffen, verurteilen dann die Schwangere, werfen die Kindsmörderin in einen Käfig und assistieren in frommem Schauer bei ihrer Hinrichtung durch das Schafott. Kritik an dieser Doppelmoral ist die Kernbotschaft des Regisseurs, und er zielt damit durchaus auf unsere heutige Zeit.
Verbannung ins Empire
Doch warum steckt Karin Jud die Figuren des Geschehens in historische Gewänder aus dem Zweiten Kaiserreich? Dieser Umweg wäre nicht nötig, um das Zielpublikum zu erreichen. Immerhin verzichtet Ben Baur in seinen Bühnenbildern auf plakativen Realismus. Zum einen veranschaulicht er das unterschiedliche soziale Milieu von Faust und Gretchen, zum andern deutet er das ganze Geschehen als eine Folge von Darbietungen in einem Kabarett. Mephisto amtet als Direktor, Marguerite wird vorgeführt, Faust ist manchmal Zuschauer, manchmal Mitspieler. Wahrlich eine originelle Umsetzung der Abhängigkeitsverhältnisse.
Musikalisch erklingt in Zürich die normalerweise gespielte Grand-Opéra-Fassung mit den Rezitativen, aber mit einer nur angedeuteten Walpurgisnacht-Szene zu Beginn des fünften Akts. Gounods Musik verschmilzt verschiedene Stile zu einer nicht unproblematischen Einheit. Da gibt es Süssliches und Derbes, Anklänge an Meyerbeersche Massenszenen, den Klangzauber von Berlioz, vor allem aber eine Durchtränkung mit Elementen aus der geistlichen Musik, die Gounods Herkunft als Kirchenmusiker verraten. Patrick Lange, seit 2010 Chefdirigent an der Komischen Oper Berlin und wie Gloger ein Vertreter der jungen Generation, wird diesem stilistischen Pluralismus durchaus gerecht. Die Philharmonia, das Orchester der Oper Zürich, bringt den Wechsel zwischen Rezitativen, offenen Szenen und geschlossenen Nummern bestens zur Geltung. Dass man am Schluss, wenn Gretchens Leiche zu den Klängen des Chors «Christ est ressuscité» weggetragen wird, als Zuschauer dennoch nicht richtig betroffen ist, liegt wohl daran, dass hier sowohl musikalisch wie optisch derart theatralisch aufgefahren wird, dass der Ernst in Parodie umkippt.
Pavol Breslik, der als Faust ein Rollendebüt vorlegt, schien sich an der Premiere in seiner Rolle noch nicht hundertprozentig wohl zu fühlen. Stimmlich mit einem wohlklingenden, eher leichten Tenor ausgestattet, vermag er die Zerrissenheit der Rolle nicht in aller Schärfe darzustellen. Deutlich wird dies im Vergleich mit der Marguerite von Amanda Majeski, wie Breslik Ensemblemitglied des Opernhauses Zürich. Die Amerikanerin, welche die Rolle des Gretchen schon einige Male gespielt hat, begeistert mit einem Ausdrucksrepertoire, das von Zagen über Euphorie bis zur Depression reicht, und mit einer Sopranstimme, die zu allen Gefühlslagen den passenden Ton findet. Mit der Besetzung der Mephisto-Rolle durch den Amerikaner Kyle Ketelsen ist der Nagel auf den Kopf getroffen. Sein markiger Bassbariton lässt Gänsehaut entstehen, sein Wechselspiel zwischen Verführer, Kumpel und teuflischem Bösewicht ist umwerfend.
Aufwertung Valentins
In den Nebenrollen gibt Irène Friedli eine mannstolle Marthe, die gar um Mephisto buhlt, Anna Stéphany den pubertierenden Siébel, der unglücklich in Marguerite verliebt ist, und Erik Anstine den trinkfreudigen Studenten Wagner. Deutlich aufgewertet und umgedeutet im Vergleich zu Goethes Schauspiel ist die Figur von Marguerites Bruder Valentin. Der Bariton Elliot Madore verleiht ihm nicht ganz das Gewicht, das er in der Lesart Gounods verdient. Als Hüter über die Unschuld seiner Schwester und über die Moral im Zeichen des Kreuzes verflucht Valentin die von Faust geschwängerte Marguerite vor allen Leuten, bevor er, im Duell von Faust getroffen, tot zusammenbricht.