Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (05.11.2013)
Das Opernhaus Zürich zeigt Charles Gounods «Faust», hübsch inszeniert und mit jungen, valablen Sängern
Schön wars. Viel mehr ist dem nicht hinzuzufügen, höchstens vielleicht, dass dieser Opernabend aufregender begann als «Faust» anno dazumal im Stadttheater. Der «greise» Held, der ewig grübelnde Einzelgänger Faust, sitzt für einmal nämlich mit einer schönen und klugen Frau am elegant gedeckten Tisch. Damit nicht genug. Alsbald trudeln drei süsse Kinderchen ins Haus, zeigen, was sie in der Schule Schönes geleistet haben.
Die Szene zeigt es deutlich: Papa Faust steckt im besten Mannesalter, nichts deutet auf einen «bejahrten Mann» hin, «der mit Eintritt in den Ruhestand einen erneuten Ausbruch des alten erotischen Jagdfiebers erwartet», wie das Loriot in seinem köstlichen Opernführer über Charles Gounod (1818–1893) «Faust» schrieb.
Alt oder jung – egal: Unser Protagonist hält die Familienidylle nicht mehr aus. Genauso wie das junge Volk vor seinem Fenster will auch er wieder erotischen Schabernack treiben: saufen, huren, lachen! Bei den Versen «Ich sehne mich, die Kette zu zerreissen, die mich noch an die Erde bindet» weist er verzweifelt auf seine Gattin. Doch von ebendieser schönen Frau ertappt, schwindet ihm alsbald der Mut, sich mit einem zerschlagenen Glas die Pulsadern aufzuschneiden. Es bleibt ihm nur die Flucht nach vorne – Satan soll ihm helfen, aus der heilen Welt auszubrechen! Kaum ist er angerufen, steht auch schon ein Bilderbuch-Mephisto mitsamt Pluderhosen, Degen und zwei Fasanenfedern vor dem Menschlein Faust, nimmt das Heft in die Hand, bietet dem Bürger Faust das ersehnte Jugendglück.
Blick auf die Unterhosen
Es tanzen die Damen und (Achtung, Provokation!) auch die Herren mit freier Sicht auf die Unterwäsche Cancan, es wird gefochten, dass die Funken sprühen, es wird wild getrunken, in der Walpurgisnacht gibt’s Disco-Licht wie in den 80er-Jahren, im Gegensatz dazu flackert in Marguerites weisser Kammer ein stilles Kerzchen. Hier erhält die als Kellnerin arbeitende Heldin ein Paket des Liebhabers, so gross und schön und schwarz, wie man es nicht mal bei «Globus» kriegt.
Kurz und gut: Der junge deutsche Regisseur Jan Philipp Gloger weiss flugs zwischen Intimität und Massenszene zu wechseln, vertraut den altbekannten Theatermitteln und verlegt die Handlung in die Entstehungszeit der Oper, ins zweite Kaiserreich. Da die Protagonisten artig miteinander agieren, die Bühnenbilder von Ben Baur sowohl in ihrer dunklen Majestät als auch in ihrer zirkushaften Leichtigkeit das Geschehen bestens weiterspinnen, haben die Sänger eine ideale Grundlage, um lustvoll Oper zu spielen.
Leider beginnt das Orchesterspiel pomadig. Der junge Dirigent Patrick Lange kommt mit dem Philharmonia Zürich nicht vom Fleck, kann dem Abend keine Duftnote geben – schon gar keine französische. So ergibt sich auch kein Sog hinauf auf die Bühne. Dort agieren zwar alle auf beachtlichem Niveau, aber jeder nach seiner Fasson.
Der 34-jährige Tenor Pavol Breslik debütiert als Faust. Er macht mit seiner sicheren, nicht eben viel Schmelz versprühenden Stimme vieles gut, führt die Mittellage korrekt und wagt spektakuläre Spitzentöne. Dennoch bleibt er hinter seinem Zürcher Rollenvorgänger Francisco Araiza zurück. Nicht dass Araiza damals im Winter 1997 noch in bester Verfassung gewesen wäre. Aber er traf die Figur in ihrer Grösse und in ihrer Zerrissenheit. Breslik steht immer einen Schritt neben ihr, geht nicht in Faust auf.
Wie das geht, macht ihm der ebenfalls junge Amerikaner Kyle Ketelsen als Méphistophélès vor: Mit (viel) Haut und (wenig) Haar verkörpert er mit theatralem Zauber das Böse, wechselt von Szene zu Szene sein Kostüm, spielt überlegen, zieht die Fäden: Und singt mit mächtigem Bassbariton. Auch Anna Stéphany nutzt die hübsche Rolle des Siébel, um auf sich aufmerksam nachhaltig zu machen.
Realer Tod, neues Leben?
Im Unterschied zu Goethes «Faust» ist in der französischen Opernfassung das nette Gretchen eine selbstbewusst agierende und sehr präsente Marguerite. Amanda Majeski gelingt es lange nicht, weder stimmlich noch schauspielerisch, Farbe zu bekennen. Ab der Kerkerszene, den Tod vor Augen, blüht sie allerdings auf. Und dieser Tod ist spektakulär inszeniert. Marguerite sinkt nicht leblos zusammen, sondern die Guillotine saust auf ihr Haupt hinunter – mausetot, nix mit der berüchtigten operntypischen Todes-Ungewissheit, dem «entseelten Niedersinken».
Auch Fausts Schicksal wird für einmal nüchtern geklärt. Nach der Auferstehungs-Hymne des Chores leert sich die Bühne. Da steht Faust im Büsserhemd und trifft auf seine Frau und seine drei Kinder. Er hat gesündigt, der Arme. Und so fragt denn der moralisierende Regisseur Gloger: Geht das Leben der Familie Faust jetzt weiter? Schön wärs.