Oliver Meier, Berner Zeitung (22.10.2013)
Musikalisch ein Volltreffer, szenisch ein Schuss ins Wasser: Konzert Theater Bern zeigt «Der Freyschütz» von Carl Maria von Weber in einer originellen Fassung, die den Klassiker neu hören lässt.
War alles nur ein Traum? Zuletzt, als das Happy End bedrohlich naht, zückt die Regie ihre letzte Karte. Abschminken ist angesagt. Wie bestellt und nicht abgeholt sitzen die Protagonisten am Bühnenrand, reiben sich das Make-up aus dem Gesicht. Max und Agathe, die eine Oper lang umeinander bangten, sitzen meterweit auseinander, blicken verlegen ins Leere. Und der gute Eremit, der die Tragödie kraft seiner Gestalt mal eben ins Gegenteil drehte, verliert seinen Weissbart, wird zum Darsteller in Jeans.
Übertünchte Ratlosigkeit
Ernüchterung also steht am Schluss des Berner «Freyschützen». Es ist das halb gare Ende einer halb garen Inszenierung, die mit viel visuellem Aufwand die Ratlosigkeit der Regie zu übertünchen scheint – und zuletzt mit einigen Buhs bedacht wird. Was lässt sich herausholen aus der finsteren Kunstsage um den Jägerburschen Max, der sich dem Diabolischen ausliefert, um beim Wettschiessen zu reüssieren und seine geliebte Agathe zu erringen? Regisseur Michael Simon, der sich in Bern zuletzt an Frischs «Blaubart» versuchte, übermalt das biedermeierliche Kolorit mit einer expressiven Ästhetik, die aus der Kunstgeschichte schöpft. Grellrote Fratzen zieren das Zimmer der Agathe, das zum Angstraum wird, und der «Platz vor der Waldschenke» zeigt grotesk verzerrte Tierkörper – die Malabteilung von Konzert Theater Bern hat ganze Arbeit geleistet. Die Regie kehrt das innere Grauen nach aussen. Doch der psychoanalytische Zugriff bleibt im Ansatz stecken. Viele Figuren wirken überkostümiert statt (alp-)traumhaft, die Szenen statisch – von Personenführung ist wenig zu spüren. Und Max und Agathe bleiben als Protagonistenpaar merkwürdig blass.
Die Neudeutung, sie geschieht auf der Ebene der Musik. Mario Venzago, Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters, knüpft dort an, wo er vergangene Saison bei Beethovens «Fidelio» aufgehört hat: mit einer nie gehörten «Berner Fassung» – historisch informiert, dezidiert subjektiv, streitbar im besten Sinn.
Der Dirigent als Komponist
Venzago greift auf eine Fassung zurück, die Hector Berlioz 1841 als «Le Freyschütz» für die Grand Opéra einrichtete – mit auskomponierten Rezitativen anstelle der gesprochenen Dialoge. Dabei hat sich Venzago viele Freiheiten genommen: Nicht nur das Libretto hat er neu gefasst, auch die Musik der (gekürzten) Rezitative. Hinzu kommt eine «nullte» Szene zwischen Agathe und dem Eremiten, die Carl Maria von Weber selber gar nie vertonte.
Das Ergebnis verblüfft – und überzeugt in weiten Teilen. Aus dem bekannten «Freischütz», durchsetzt mit altväterlichen Dialogen, wird ein strömender «Freyschütz», dicht und erstaunlich geschlossen. Weg vom Singspiel hin zur grossen Romantik geht die Reise – sie macht schlagend klar, wie viel Richard Wagner und Hector Berlioz dem Klangmaler Weber zu verdanken hatten. Venzago arbeitet dies mit seinem Orchester detailgenau aus. Zugleich zeigt er, wie viel Zug und Theatralität im Stück steckt. Stellenweise – etwa im Schlussteil der Ouvertüre – dirigiert Venzago quasi mit der Peitsche, oder sagen wir: mit dem Jagdgewehr. Doch er lässt die Musik auch immer wieder atmen, öffnet Räume, etwa in raunend religiöse Sphären. Manches leuchtet allerdings nur bedingt ein. Bei der «nullten» Szene setzt Venzago eine lutherische Messe als Folie – ein irritierender Stilbruch. Überflüssig wirkt zudem die «Ballettmusik»: Webers «Aufforderung zum Tanz» in der Orchesterversion von Berlioz wirkt wie ein Fremdkörper, zumal der Regie dazu bemerkenswert wenig einfällt. Und manche Ideen Venzagos wirken manieriert. Muss man den strotzenden Jägerchor wirklich unterlaufen, nur weil er so populär ist? Der Chor – sonst tadellos, was Diktion und Intonation betrifft – kommt hier jedenfalls nicht in Fahrt.
Und die Solisten? Stimmlich ist das Protagonistenpaar um einiges präsenter als darstellerisch. Bettina Jensen zeigt Agathe mit blühendem Sopran, setzt aber oft auf Kraft und Vibrato, das Leise liegt ihr weniger. Sehr leicht und nuanciert gestaltet Tenor Tomasz Zagorski die Rolle des Max. Bleibenden Eindruck aber hinterlassen andere: Pavel Shmulevich als diabolisch-koboldhafter Kaspar mit tiefschwarzem Bass und Sopranistin Yun-Jeon Lee, die als Ännchen strahlende Präsenz markiert. Zu Recht werden sie am Ende ebenso bejubelt wie der kühne Mann am Dirigentenpult.