Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (22.10.2013)
Das Theater Bern startet mit Carl Maria von Webers «Freyschütz» in die Opernsaison
Erstaunlich. Da startet ein Opernabend furios leuchtend und nimmt ein so mattes, zwiespältiges Ende, dass all der zwischenzeitliche Jubel beim Verlassen des Theaters zu einem unartikulierten Murmeln wird.
Verdienst und Schuld daran trägt ein und dieselbe Person – Berns musikalische Lichtgestalt Mario Venzago. Vor einem Jahr ist der 65-Jährige als Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters triumphal in die Bundesstadt eingezogen und hat es in kürzester Zeit geschafft, dem Berner Sinfonieorchester sowohl im Konzertsaal als auch in der Oper viel Selbstvertrauen zu schenken.
«Freischütz» wird zum «Freyschütz»
Venzagos eigenes Selbstbewusstsein zeigt sich bei Carl MariavonWebers «Freischütz», indem er ihn zum «Freyschütz» macht, wählt er doch die 1841 von Hector Berlioz für Paris entworfene Fassung mit durchkomponierten Rezitativen. Dort nämlich wurde das gesprochene Wort auf der Opernbühne nicht toleriert. Problematisch ist nicht die Qualität dieser durch Venzago ergänzten Einschübe, sondern die Charakteränderung des Werks: Weber leidet unter dem romantisch-französischen Diktat und seiner Berner Kopie.
Der «Freischütz» lebt vom Wechsel der – zugegeben naiv bieder wirkenden – unbegleiteten Rezitative und seiner auftrumpfenden Musik. Jetzt wetteifern sie mit- und gegeneinander, da Venzago/Berlioz ihre romantische Eitelkeit im Originalitätswettstreit mit Weber nicht verhehlen können. In der Berner Fassung wird der ganze «Freischütz» ein turmhoch stürmisches Gemälde, das den Betrachter wie der Rubens-Saal im Louvre erschlägt.
Nebenbei: Dort, wo Weber tatsächlich ein vom Orchester begleitetes Rezitativ wollte, komponierte er es auch. In der Wolfsschlucht-Szene genialer als alle vor ihm. Immerhin: Venzago und das famos aufspielende Berner Sinfonieorchester reizen die Musik in die kleinste Verzierung aus. Bereits Webers Ouvertüre dirigiert Venzago hinreissend packend und gibt dabei die Stimmung der Inszenierung vor. Sie zeigt, dass die ach so schöne deutsche Romantik ein unheimlich abschüssiges Gelände ist.
Die Sänger werden von Venzago gefordert, aber er bedrängt sie nie. Ensemble-Mitglied Yun-Jeong Lee empfiehlt sich als Ännchen für Grösseres, Tomasz Zagorski (Max) und Bettina Jensen (Agathe) füllen die Hauptrollen ideal aus. Aber Venzago bleibt der Protagonist.
Selbst in der idyllischsten Blechbläser-Passage pulst so viel Drang, so viel Kraft, dass jedem klar ist, wie abgrundtief dunkel das Treiben in der Wolfsschlucht sein wird: Klingt der Jubel nicht auch brutal? Ist diese deutsche Idylle nicht auch verlogen?, fragt Venzago – später dann gibt Regisseur Michael Simon die Antwort.
Seine optisch überbordende Regie passt zu Venzagos Kühnheit. Simon gibt uns Einblick ins Seelenleben von Jäger Max, der am Vorabend der Hochzeit mit Agathe mit seinem Gewehr plötzlich nicht mehr trifft. In der Not soll ihm der Teufel helfen... Chor, Kaspar, Ännchen, Samiel&Co. werden bei Simon zu allegorischen Natur-Figuren, die sich aber trotz ihrer märchenhaften Züge recht gut zu einer rational handelnden Staffage zusammenfügen und so von Max’ Begierden und Träumen erzählen.
Wenige Buhs, viel Jubel
Zum Schluss wischen sich alle die Schminke vom Gesicht und wollen uns sagen: «Wir haben nicht bloss eine Spukgeschichte vorgespielt, vielmehr wollten wir euch viel über diesen Helden Max erzählen.» Man nimmt es zur Kenntnis und bleibt ob dem Hang nach brechtscher Epik und trotz rauschhafter Musik erstaunlich unberührt. Nicht alle: Die Buhs wurden vom Jubel übertönt.