Grelle Geister in Agathes Albtraum

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (24.10.2013)

Der Freischütz, 20.10.2013, Bern

Am Theater Bern entwirft Michael Simon grelle Comic bilder für Carl Maria von Webers romantische Oper «Der Freischütz». Noch interessanter aber ist die musikalische Seite.

Was bloss ist da passiert mit dem Deutschen Wald? Tote Tiere, so weit das Auge reicht. In grellem Rot und Grün bedrängen erschossene Hirsche bis in den Bühnenhimmel die Szene von Regisseur und Bühnenbildner Michael Simon. Äquivalent sieht es im Zimmer aus, wo Agathe und Ännchen die Hochzeit erwarten: Die Ahnenbilder sind zu dämonenhaften Fratzen erstarrt. Wir durchleben eine Albtraum-Vision unseres Liebespaars Agathe und Max, die als einzige in diesem grellen, comic-haften Geisterspuk normale Kleider – in unschuldigem Weiss – tragen. Grotesk überzeichnet, mit holzschnittartigen Requisiten ausstaffiert erscheint der Rest des Personals. Und der Eremit, Inbegriff des Guten und Göttlichen, verschmilzt sogar mit Samiel, wie hier der Teufel heisst, von dem Max mit Kaspars Hilfe die Freikugeln für den sicheren Probeschuss gewinnen will.

Originelle Bilder

In der Wolfsschlucht, die sich optisch tief vor Bob Wilsons legendärem «Black Rider» verbeugt, tummeln sich gar lebendig gewordene Dinosaurier-Schädel, die als Schreckgespenster auch mal durch die Decke über Agathes Zimmer brechen. Simons Bilder sind zweifellos stark und originell, aber sie verlieren da, wo sich Protagonisten und Chorsänger in ähnlicher Schauerlichkeit in sie einfügen sollten. Die unsichere Getriebenheit Agathes auf unebenem Boden passt, ebenso wie die raubtierhafte Agilität von Kaspar. Aber schon Ännchen, die in der Art japanischer Manga-Figuren gezeichnet ist, bewegt sich kaum ihrer quirligen Musik adäquat, Förster- Vater, Eremit und Fürst stehen überwiegend herum, und im eingeschobenen Ballett – Webers Wunschkonzert-Hit «Aufforderung zum Tanz» – sollen die Choristen wohl eine Horde Zombies darstellen. Spätestens da wird der Abend unfreiwillig zur Parodie.

«Freischütz» und Ballett? Genau! Webers Oper entstand 1817-1821 in der deutschen Singspieltradition mit gesprochenen Dialogen. Das Stück war so erfolgreich, dass es bald in vielen Städten nachgespielt wurde, so auch 1841 in Paris. Die Grande Opéra aber hatte feste Regeln: keine gesprochene Sprache auf der Bühne, zwingend ein Ballett. Kein Geringerer als Komponist Hector Berlioz wurde für die Aufgabe gewonnen, Webers Klavierstück für das Ballett zu orchestrieren und die Dialoge in Rezitative umzuformen. Sie wurden für die Berner Aufführung nun ins Deutsche rückübersetzt und fügten sich überraschend nahtlos in Webers Partitur ein. Berlioz gelang eine sehr abwechslungsreiche, klangfarblich raffinierte, melodisch und harmonisch originelle Ausgestaltung dieser Accompagnati, die unter den Händen von Chef dirigent Mario Venzago sehr schön zum Blühen kamen.

Überzeugendes Ännchen

Zwar wirkte in der Vorstellung vom Dienstag das Orchester ein wenig müde und innerhalb der Register bisweilen inhomogen. Aber im aufgefächerten, von Bläserfarben und wenig Streichervibrato geprägten Klangbild, das Venzago bevorzugt, erklang Webers frühromantische Partitur insgesamt erfreulich differenziert. Unter den Sängern überzeugte das Ännchen der Koreanerin Yun-Jeong Lee in ihrer kecken Munterkeit und stilsicheren Koloraturgeläufigkeit mehr als die Agathe von Bettina Jensen, deren Linien farblich und dynamisch zu oft unorganisch wirkten.

Auch der Kaspar von Pavel Shmulevich stahl mit seiner abgerundeten Geschmeidigkeit dem Max von Thomasz Zagorski, der seine Stimme stärker forcierte als ihr gut bekam, ein wenig die Show. Aufgewertet wurde die Partie des Eremiten (solid aber pauschal: Dietmar Renner) durch die von Weber seinerseits gestrichene Eingangsszene, die Venzago mit Musik aus weiteren Werken Webers neu fasste.