Sigfried Schibli, Basler Zeitung (22.10.2013)
Richard Wagners romantische Oper «Lohengrin» am Theater Basel
Das Böse, ohne das es wahrscheinlich kein Theater und auch kein Musiktheater gäbe, hat in Richard Wagners romantischer Oper «Lohengrin» einen Namen: Ortrud. Sie, die Magierin, Antichristin und Gemahlin des in seiner Ehre gekränkten Friedrich von Telramund, verzaubert den Thronfolger Gottfried von Brabant in einen Schwan und spinnt eine Intrige gegen dessen Schwester Elsa von Brabant. Elsa soll ihren Bruder zum Verschwinden gebracht haben, um selbst an die Macht zu kommen, so lautet der Vorwurf, den Ortrud ihrem Friedrich einflösst.
Dieses Verhalten macht Ortrud zum Urbild der politisch aktiven, raffiniert Ränke schmiedenden Frau – und das war für Wagner nichts Positives. «Ein politischer Mann ist widerlich», schrieb er an seinen Schwiegervater Franz Liszt, «ein politisches Weib aber grauenhaft.» Manche sehen das heute noch so.
Reinigung im Dampfbad
Nike Wagner, die Urenkelin des Komponisten, hat «Lohengrin» als «schwärzeste der Tragödien Wagners» bezeichnet. Das ist sie natürlich auch in der Basler Produktion mit dem Wagner-erfahrenen Dirigenten Axel Kober aus Düsseldorf am Pult und der Regisseurin Vera Nemirova, die am Theater Basel bereits Verdis «Maskenball» als Totentanz inszeniert und damit einen Hang zum Makabren bewiesen hat (BaZ vom 17. 12. 2012).
Die Geschichte um den Gralsritter Lohengrin, dessen Namen und Herkunft niemand wissen darf («Nie sollst du mich befragen»), führt auch hier zu ewigem Abschied und Tod. Elsa, die sich durch Ortrud aufhetzen liess, die verbotene Frage doch zu stellen, bleibt am Ende einsam und gebrochen zurück. Friedrich von Telramund ist von der Hand Lohengrins gefallen, der Gralsritter Lohengrin fährt heim zu Vater Parsifal auf die Burg Montsalvat.
Alle Hoffnung für das von den Ungarn bedrohte deutsche Reich ruht jetzt auf dem Knaben Gottfried, der am Ende Lohengrins Schwert schwingt, worauf Ortrud tot zusammensinkt. Ihr Kalkül ist nicht aufgegangen. Aber im Tragischen macht die Regie einige doch auch sehr komische Züge ausfindig. So gehen die angehenden Soldaten im zweiten Akt kollektiv ins Dampfbad, um sich dann der Rekrutierung mit Gewichtskontrolle und Schädelvermessung zu stellen. Der Heerrufer mutiert dafür vorübergehend zum Kompaniearzt. Der sehr leicht und ohne Pathos genommene «Treulich»-Chor in B-Dur, den einst jeder Frauenchor im Repertoire hatte, wird gestisch in ein hübsches Wippen übersetzt, während die überbordende Hochzeitsfreude des Volkes als fröhliche Kissenschlacht erscheint.
Dass dieses Volk hungert und darbt und der «Erlösung» bedarf, wurde uns im ersten Akt, wo der Heerrufer Suppe an Bedürftige ausschenkte, fast überdeutlich vor Augen geführt.
Eine überraschende Regienuance bietet der Auftritt des Titelhelden Lohengrin. Im originalen Libretto wird er von einem Schwan in einem Nachen gezogen – ein bekanntes, vielleicht schon allzu Postkartenkitsch-verdächtiges Motiv. Auf der Basler Bühne trägt Lohengrin den Knaben, der Bewegungen wie ein Flügel schlagender Schwan macht, auf die Spielfläche. Wir sind ja nicht blöd, kennen die Geschichte und erkennen in ihm schon zu Beginn den tot geglaubten Gottfried von Brabant.
Modische Psychiatrie-Metapher
Die langen Ärmel des Kindes sind zugleich Schwanenflügel und die Ärmel einer Zwangsjacke, wie sie auch Elsa von Brabant trägt. Sie ist wegen ihrer Visionen für verrückt erklärt worden, woran auch wir glauben, wenn sie Friedrich von Telramund in die Hand beisst. Erst Lohengrin wird sie von der Zwangsjacke befreien und zur vollgültigen, liebenden Frau machen. Wagner als Pionier der Anti-Psychiatrie?
Die Psychiatrie-Metapher gehört ebenso wie die blutige Selbstverstümmelung der gotteslästerlichen Ortrud im zweiten Akt und das unnötige Herumschieben eines Scheinwerfers auf der Bühne zu den Versatzstücken des sogenannten Regietheaters, auf die man allmählich verzichten könnte. Wir müssen sie hinnehmen wie das Einheitsbühnenbild von Jens Kilian, das eine gotische Kirche mit Kanzel zeigt, in welcher aber seltsamerweise auch das Waschbecken der Soldaten und das Brautbett von Elsa und Lohengrin stehen. Wer es gern hyperrealistisch mag, geht besser ins Kino als in die Oper.
Die Dialoge von Ortrud und Friedrich im zweiten Akt gehören zum Packendsten, was «Lohengrin» zu bieten hat – Szenen einer Ehe im Sinne Bergmans. Den Satz «Erhebe dich, Genossin meiner Schmach!» lasse ich mir jedesmal auf dem Trommelfell zergehen. Danach setzt ein Gekeif und Schuldzuweisen ohne Schonung ein. Diese intimen, hier (wie so vieles) vorn an der Rampe gesungenen Kammerszenen kontrastieren zum festlichen Blechbläser-Pomp und zu den lichten, ätherischen Stellen in dieser Oper, die man immer wieder mit den Farben Hellblau und Weiss assoziiert hat.
Eleganz der Verzierungen
Michelle De Young, die mit ihren blonden Löckchen eher einem Engel als einer Teufelin ähnelt, zeigt mit ihrer grossen Gestalt und der nicht weniger grossen, im Schlussteil noch einmal mächtig aufdrehenden Mezzosopranstimme, welche dramatische Kraft in dieser Partie steckt. Fast glaubte man in ihr eine Wiedergeburt der unvergessenen Leandra Overmann zu erleben. Friedrich von Telramund wird vom Bariton Olafur Sigurdarson mit nie nachlassender Power und vorzüglicher Wortdeutlichkeit verkörpert.
Elsa, das ist eine schwer zu gestaltende Partie, hat sie doch im Grunde viel zu singen, aber wenig zu sagen, vor allem im Vergleich zu ihrer Widersacherin Ortrud, und setzt sich dem Verdacht aus, nur ein Spielball mächtiger Männer zu sein. Die Sopranistin Sunyoung Seo, die aus dem Basler Opernstudio hervorgegangen ist, führt ihre schlanke, höhensichere Stimme mit Gewinn durch diese grosse Partie; ihre Doppelschlag-verzierungen sind ein Hörgenuss für sich, und die «Traumerzählung» in As-Dur nimmt einen in Bann. Zeigte sie im ersten Akt noch ein wenig Mühe mit dem Rhythmischen, so fand sie danach zunehmend Sicherheit. In der letzten Basler Inszenierung 1999 sang Nina Stemme diese Partie, danach machte sie eine grosse internationale Karriere. Ob es Sunyoung Seo auch so ergehen wird?
Mit einiger Spannung erwartete man den Lohengrin des Schweizer Tenors Rolf Romei. Seit seinem Basler Wagner-Parsifal im April 2011 hat er gestalterisch und technisch mächtig zugelegt, und am Premierenabend erlebte man ihn als faszinierenden Lohengrin mit makelloser Intonation und ebenso viel Kraft wie Innerlichkeit. Nur auf der allerletzten Fortissimo-Meile wäre noch eine Steigerung wünschbar. In mittleren Partien waren der Heerrufer von Andrew Murphy und der König Heinrich von Pavel Kudinov zu hören – kein Grund zur Klage. Julian Köhler war der stumme Herzog Gottfried.
Fesselnde Kollektive
Schon von den ersten A-Dur-Takten an nimmt einen das differenzierte Spiel des Sinfonieorchesters Basel unter Axel Kober gefangen – da wird ein grosses klangliches Potenzial ausgeschöpft, von den filigranen Streichermotiven bis zum martialischen, auch mal quadrofonisch im Raum verteilten Blech. Die Tempi sind eher zügig (am auffälligsten im temperamentvollen Finale des ersten Akts), aber nie verhetzt. Die Bühnenmusik hatte man vom Gewandhausorchester Leipzig importiert.
Eine gewaltige Aufgabe hat der von Henryk Polus geleitete Theaterchor mit Extrachor zu bewältigen. Spätestens seit Heinrich Manns «Untertan» gilt er als Parabel für die Manipulierbarkeit der Masse, die grausam im Nationalsozialismus gipfeln sollte. Die Regie verzichtet klug auf derlei zeitgeschichtliche Zuspitzungen und bringt das Wesentliche, den Wankelmut der Mannen und Frauen, auch so plausibel hinüber. In der Premiere begriff man sofort, weshalb der Basler Theaterchor gerade zum Opernchor des Jahres gewählt worden ist: Engagiertes Spiel, kerniges Forte und weiches Pianissimo verbanden sich hier zur chorischen Meisterleistung.
Lang anhaltender Applaus eines Publikums, dem die 200 Spielminuten plus zwei Pausen oder viereinhalb Stunden Gesamtdauer offenbar nicht zu viel des Guten waren und das die einfallsreiche, effektvolle Regie wenigstens nicht gestört hat.