Schillernde Opernromantik

Herbert Büttiker, Der Landbote (22.10.2013)

Der fliegende Holländer, 19.10.2013, St. Gallen

Drei Premieren, dreimal deutsche romantische Oper auf Schweizer Bühnen am Wochenende, am Samstag «Der fliegende Holländer» in St. Gallen, am Sonntag «Lohengrin» in Basel und am selben Abend in Bern «Der Freischütz».

Basel zog mit der Regisseurin Vera Nemirova für Wagners «Lohengrin» die Aufmerksamkeit auf sich, Bern gleichzeitig mit einem Experiment der «Verfremdung» des populären «Freischütz». Die Idee, auf die Fassung der Pariser Oper von 1841 zurückzugreifen, ist nicht neu, die Motivation dafür liegt auf der Hand. Niemand Geringerer als der grosse französische Verehrer Carl Maria von Webers, Hector Berlioz, hat sie erarbeitet – widerwillig, denn das Original war ihm heilig. Den Auftrag übernahm er nur, um keinen Pfuscher ans Werk zu lassen und es an der Opéra aufführbar zu machen. Gesungene Rezitative anstelle gesprochener Dialoge waren da ebenso unabdingbar wie ein eingeschobenes Ballett-Divertissement. Dafür arrangierte Berlioz die Orchesterfassung von Webers «Aufforderung zum Tanz», die auch im Konzertsaal Karriere gemacht hat.

Geht man um der Operngeschichte willen ins Theater? Wenn ja, so war die Kombination «Freischütz» und «Fliegender Holländer» an diesem Wochenende doppelt interessant: Dass es zwischen den beiden Werken vielerlei Bezüge gibt, ist das eine – man denke nur an die Figurenkonstellation. Das andere ist die Frage, um wie viel näher sie dank der «durchkomponierten» Fassung des «Freischütz» zusammenrücken. Es ist ja auch daran zu erinnern, dass zur selben Zeit, als «Le Freyschütz» als Grosse Oper in Paris über die Bühne ging, Wagner sich vergeblich dar­um bemühte, den «Fliegenden Holländer» für Paris komponieren zu können.

«Der fliegende Holländer»

Eine weitere Frage ist, wie sich Opernromantik mit ihren von dämonischen Mächten umgarnten und um Erlösung ringenden Helden heute auf der Bühne zeigt, der Jäger Max, der dank dem Beistand des Eremiten gerade noch ­irdisch-glücklich im C-Dur davonkommt, der todessüchtige Holländer, der dank der sich in die Fluten stürzenden Senta von der Welt erlöst wird.

In St. Gallen kon­zen­triert sich das Team Alexander Nerlich (Inszenierung), Stefan Mayer (Bühne), Elina Schnizler (Kostüme) und Andreas Enzler (Licht) in karger, aber stimmungsstarker Ausstattung ohne Phantomschiff auf die Figuren. Diese repräsentieren im provinziell-heutigen Outfit eine Durchschnittswelt, die mit der inkommensurablen Gestalt des Wiedergängers konfrontiert wird. An diesem wird nicht herumgedeutet. Eher wird dessen «Einbruch» durch Spiel und Gestik zusätzlich verrätselt. Dafür ­klären sich die Figuren, die mit ihm in Berührung kommen. Das ist keine schlechte Strategie – vor allem, wenn ein Sängerteam am Werk ist, das den Figuren szenisch wie musikalisch grossartige Bühnenpräsenz verschafft: Almas Svilpa als Bariton von dunkel-schwülstiger Dämonie für den Holländer, Anna Gabler als aufsteigender Stern am Wagner-Himmel mit magis­traler Intensität für eine ener­gie­volle Senta, Erin Caves mit packender Tenorleidenschaft für Eric und Steven Humes mit kernigem und wendigem Bass für einen patzig jovialen Daland.

Zum Eindruck einer kompakten En­sem­bleleistung, die mit dem Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung von Modestas Pitrenas zu einer wuchtigen Aufführung findet, gehören auch Nebenrollen, vor allem aber der so entfesselt wie präzise klingende Chor, der mit den St. Galler und Winterthurer Formationen gross besetzt ist.

«Der Freischütz»

Wer das Geisterschiff in der St. Galler Inszenierung des «Holländes» vermisst, kann sich an gespensterhaften Erscheinungen in der Berner «Freischütz»-Inszenierung sattsehen. Michael Simon (Regie und Bühne) veranstaltet eine Ausstattungsorgie zwischen Comic, Grand Guignol und Art brut – mit starken Momenten (die Wolfsschlucht!) und auch manch trivialen. Zu viel insgesamt: Wilde Malereien von Tier- und Menschenfratzen, Figuren mit übergrossen Perücken und wuchernden Bärten in überladener Kostümierung kleistern die Bühne zu. Zu begreifen ist das alles aber sehr wohl als groteske Traum- und Angstwelt, in die es Max und Agathe, ganz in Weiss, offenbar verschlagen hat.

Das alles ist jedenfalls gut als Rechtfertigung für Mario Venzagos Experiment mit der Berlioz-Fassung. Die realistisch-biedermeierlichen Dialoge des originalen Librettos hätten in diese überzeichnete Szenerie kaum gepasst. Die Orchesterrezitative, stark eingekürzt und in der Rückübersetzung ins Deutsche rhetorisch nicht sehr prä­gnant, fügen sich hingegen bestens zu dieser eben wirklich opernhaften Märchen-Phantasmagorie.

Feine Stimmungsmomente und behutsame Einleitungen zu Webers Musiknummern zeigen die subtile Handschrift des Franzosen. Dass es in Bern aber weniger um eine musikgeschichtliche Rekonstruktion als um eine eigenständige Bearbeitung geht, zeigt Venzagos kreativer Beitrag, vor allem die Neukomposition der von Weber gestrichenen Eröffnungsszene des Eremiten mit Material aus Webers Erster Sinfonie. «Mitten hinein ins Volksleben» war die Devise, deretwegen Weber diese Szene schliesslich strich; mitten hinein in die Opernmetaphysik heisst es nun – mit einem frommen Eremiten, der in Venzagos Sicht mit Samiel, dem Dämon der Oper, identifiziert wird.

Von grösserem Gewicht ist, was Mario Venzago als Dirigent leistet: Auch wenn die Berner Besetzung mit Bettina Jensen als Agathe, Tomasz Zagorski als Max und besonders auffällig mit Yun-Jeong Lee als putzigem Ännchen und Pavel Shmulevich als windig-prächtigem Kaspar auf der Höhe der Aufgabe und der Chor allem Tempo-Furor gewachsen ist, so prägt doch das Dirigat den Abend am stärksten. Es verbindet opulenten Klang mit straffem Zugriff, und das Orchester, akustisch dominant, schlägt mit differenzierter Dynamik und fein ausbalancierten Übergängen gleich mit der Ouvertüre in Bann. Webers Schwung, Stimmungskunst und Kantilenenzauber stehen im Zen­trum auch dieses extravaganten «Freyschütz».