Wir Zuschauer sind Mittäter

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (13.09.2013)

Tosca, 11.09.2013, Basel

Giacomo Puccinis Künstleroper «Tosca» zur Spielzeiteröffnung am Theater Basel

Floria Tosca, die Titelfigur der 1900 uraufgeführten Puccini-Oper, ist Sängerin. Das hat in einer Oper, die «Tosca» heisst, seine besondere Pikanterie, und es hat für die Inszenierung von Jette Steckel und Florian Lösche (Bühne) sicht- und hörbare Folgen. Ein Mikrofon steht mitten auf der Bühne, und jeweils zu Beginn der beiden Stückhälften weicht das Theater vom Stücktext ab und lässt die Opernsängerin die Spartengrenzen überschreiten. Sie verwandelt sich in ein Popsternchen und haucht an der Rampe den durch Cher und Nancy Sinatra berühmt gewordenen Song «Bang, Bang» ins Mikro.

Es ist eine erste Andeutungen der Grundidee dieser klugen, vielleicht nicht in allem ganz durchdachten, aber in vielem begeisternden Inszenierung: dass wir, die wir im Zuschauer­raum des Theaters sitzen, Teil der Show sind, die Floria Tosca vor uns abzieht. Einer Show mit viel Liebesleidenschaft, Eifersucht, Machtgebaren und vier Toten in zwei Stunden. Wir ahnungslosen Operngeniesser sind eingebettete, teilnehmende Beobachter, part of the bloody game. Voyeure, die nicht nur zuschauen, sondern das Geschehen auf der Bühne erst ermöglichen.

Der Maler als Fotograf

Floria Tosca ist die Geliebte des Kunstmalers Mario Cavaradossi, der in einer Kirche – dass es die römische Kirche Sant’Andrea della Valle ist, bleibt hier unerheblich – mit der Vollendung eines Bildnisses der Maria Magdalena beschäftigt ist. Von ihr geht das Gerücht, sie sei die Geliebte Jesu Christi gewesen – jedenfalls eine schillernde Frauenfigur voller latenter Erotik.

In dieser modernen Inszenierung ist Mario Fotograf, der unterm roten Kirchenkreuz mit Aktfotografie beschäftigt ist, was zu einer kleinen Text-Bild-Dissonanz führt: Wenn er den Sakristan bittet, ihm die Farben zu reichen, stellt ihm dieser das Stativ mit der Kamera vor die Nase. So ähnlich hat man es auch schon in Alban Bergs Oper «Lulu» gesehen, in welcher es als Mann der Femme fatale Lulu einen Maler gibt, der auf heutigen Bühnen gern auch mal als Fotograf dargestellt wird. Dieser Cavaradossi bietet dem aus dem Gefängnis entflohenen Untergrundkämpfer Cesare Angelotti – Bruder der ins Gebet versunkenen Gräfin Attavanti – Unterschlupf in der Kapelle, was dem Polizeichef Baron Scarpia nicht verborgen bleibt. Er lässt Mario foltern, um des entflohenen Terroristen habhaft zu werden.

Die Schmerzensschreie des Gemarterten bringen Tosca dazu, das Versteck des politischen Gefangenen zu verraten. Scarpia verspricht dem Paar freies Geleit, wenn Tosca sich ihm hingibt, worauf diese ihn tötet. Er hatte ihr eine Scheinhinrichtung Marios versprochen, worauf das Paar in Jubel ausbricht. Doch war dieses Versprechen eine Lüge: Mario fällt unter der Kugel des Polizeiagenten Spoletta, und Tosca stürzt sich verzweifelt von der Höhe (im Original: die Engelsburg) in den Tod.

Das Spiel im Spiel

Vorher noch hat sie sich an uns, das Publikum, gewandt und uns in ungeduldiger Erwartung der Scheinerschies­sung und der gemeinsamen Flucht gefragt: «Warum zögern sie noch?» Ganz ähnlich hatte sie sich, nachdem sie das Messer in Scarpias Bauch gestossen hatte, angesichts des leblos daliegenden Tyrannen mit sarkastisch triumphierender Miene zu uns gedreht und bemerkt: «Und vor ihm zitterte ganz Rom!»

Es sind solche Momente, in denen die Basler Inszenierung am stärksten wirkt: als Spiel im Spiel, als Performance einer Bühnenkünstlerin, in welche wir unmittelbar einbezogen sind. Die ­liturgischen Episoden im ersten Akt mit ihrem bombastischen Priester-Aufmarsch fügen sich nahtlos in das theatralische Gebaren ein. Und was wäre Katholizismus anderes als geistliches Theater? Wobei ich gestehe, dass ich gern einmal eine «Tosca» ohne Bischofshüte und Messdiener sähe – schliesslich geht es dank der virtuosen Bühnentechnik, die mit wenigen beweglichen Säulen für alle drei Akte auskommt, und der sehr gekonnten Filmprojektionen von Alexander Bunge auch ohne naturalistische Bühnenbilder.

Apropos Kinder: Dem Übeltäter Scarpia schreibt die Regie gleich auch noch den Charakter eines zweifelhaften Kinderfreundes zu – anders kann man dieses zärtliche Streicheln von Kinderköpfen in unserer pädophilenkritischen Zeit wohl nicht deuten. Nicht jedes Detail wirkt plausibel. Rätselhaft und zufällig bleibt in dieser ersten Opernarbeit der aus einer gros­sen Schauspielregisseurs-Dynastie stammenden 31-jährigen Jette Steckel die Entscheidung, wann die Darsteller ins Mikrofon singen und wann nicht. Warum greift Scarpia im zweiten Akt zum Mikro, wenn er seine glühende Leidenschaft für Tosca bekennt? Warum tut sie danach dasselbe – kann sich die Regie nicht zwischen Opernsängerin und Popstar entscheiden? Da wäre noch nachzuarbeiten, noch zu klären.

Der Gesang an der Rampe

Auch die Tötung des Scarpia ist im Original schlüssiger als in dieser Inszenierung. Im Libretto, das Puccini vertont hat, schreibt Scarpia seinen Freibrief für das Paar und greift Floria Tosca nach dem Messer auf dem Esstisch des Polizeichefs. Das ist allemal einleuchtender als in der Basler Produktion, in welcher der Tisch gestrichen ist und Tosca das Messer auf dem Sofa (wie ist es nur dahin gelangt?) findet.

Dass häufig an der Rampe gesungen wird, ist Teil des Regiekonzepts, erleichtert aber zweifellos das Singen. Tosca ist hier nicht nur Opernsängerin und Popdiva, sondern gleich auch noch die betende Attavanti und die heilige Maria Magdalena. Und die Wandlungsfähigkeit der Basler Primadonna Svetlana Ignatovich ist unerhört. Sie schlüpft virtuos von einem Kostüm von Pauline Hüners ins nächste, und da sie eine attraktive Frau ist, sieht sie immer blendend aus. Stimmlich bietet Ignatovich Gewähr für eine solide Performance mit klaren, sauber getroffenen Höhen, im Opernhit «Vissi d’arte» im zweiten Akt strahlend wie ihr goldglänzendes Kleid. Nur ihre tiefe Lage scheint noch ausbaufähig zu sein, und punkto vokaler Farben wäre mehr Vielfalt denkbar.

Umso stärker die Leistung ihres Tenorpartners Maxim Aksenov als Mario Cavaradossi, der eine unerhörte Skala vom flüsternden Piano bis zum durchschlagskräftigen Fortissimo bietet und in seiner h-Moll-Arie «E lucevan le stelle» im dritten Akt wunderbar lyrisch mit der Soloklarinette des Orchesters dialogisiert. Davide Damiani als Scarpia ist der Dritte im Bunde, welcher der Basler Produktion vokale Glanzlichter aufsetzt. Keine tiefschwarze, sondern eine baritonal klar zeichnende, in allen ­Lagen ausgeglichene Stimme, die es nicht nötig hat zu brüllen.

Marko Spehar war in der Premiere am Mittwoch der gehetzte, durch den Zuschauerraum stürmende Angelotti, Andrew Murphy ein arg chargierender Sakristan und Markus Nykänen der ­tenoral untadelige Spoletta. Knaben und Mädchen der jeweiligen Kantoreien ergänzten den Chor des Theaters ­Basel. Das Sinfonieorchester Basel hatte unter der Leitung von Enrico Delamboye einen starken Premierenabend, mit sehr beherzt und homogen aufspielenden Streichern und kammermusikalisch differenzierten Bläsern.

Heftiger Premierenbeifall mit Sonderapplaus für die zentimetergenau ihre Kulissen schiebenden Bühnenarbeiter belohnte die Mühen der Ausführenden.