Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (21.10.2013)
«Der fliegende Holländer» in St. Gallen
Die Versuchsanordnung ist einfach: In einem kleinen Dorf irgendwo an der Meeresküste wohnen Menschen, deren Leben von Gleichförmigkeit, festen Konventionen und dem harten Kampf ums Dasein bestimmt ist. In diese festgefügte Welt tritt eines Tages ein Fremder, der sie in bedrohlicher Art durcheinanderbringt. Wie reagieren nun die einzelnen Personen auf diesen Einbruch? Die Rede ist von der Neuinszenierung der romantischen Oper «Der fliegende Holländer» von Richard Wagner am Theater St. Gallen.
Alexander Nerlich, der an diesem Haus bereits mit einer bemerkenswerten «Wozzeck»-Inszenierung hervorgetreten ist, zeigt den Holländer als Ausserirdischen, als Zombie, der nicht sterben kann, aber auch nicht richtig lebt. Sein Aussehen flösst Angst ein, sein Benehmen ist maskenhaft, nicht eigentlich menschlich. Der Bariton Almas Svilpa realisiert die Titelrolle mit unheimlicher Konsequenz und einer gewaltigen, naturhaften Stimme. Dass ihm die zärtlichen Töne weniger gelingen, passt zu seiner Rolle. Die erste Figur des Stücks, die dem Holländer begegnet, der Seefahrer Daland, arrangiert sich schnell mit dem Fremden. Denn er begreift, dass ihm dessen mitgebrachte Schätze Reichtum bringen. Steven Humes zeigt sich als berechnender und geschliffener Charakter, wozu sich sein geschmeidiger, kultivierter Bass ausgezeichnet fügt.
Die einzige Figur, die den Eindringling sehnsüchtig erwartet, ist Dalands Tochter Senta. Sie fühlt sich dazu berufen, den Holländer durch ihre Liebe zu erlösen, seit sie dessen Leidensgeschichte in ihrer Jugend von der Amme Mary erfahren hat. Anna Gabler stellt eine stämmige, robuste Senta dar, die sich auch durch ihr schwarzes Kleid von ihren Dorfgenossinnen abhebt. Ihre stärksten Auftritte hat sie da, wo sie der magischen Erscheinung des Holländers erliegt und in den psychischen Zustand der Trance fällt. Einschränkungen betreffen Gablers stimmliche Fähigkeiten. Ihr Sopran neigt zu übertriebenem Vibrato, in der Höhe klingt er im Forte gepresst, im Piano bricht er manchmal ein. – Die radikalste Ablehnung erfährt der Holländer naturgemäss bei Erik, Sentas Verlobtem. Nicht einmal sein strahlender Tenor hilft Erin Caves, Senta von ihrer Besessenheit abzubringen. Dalands Steuermann ist von Furcht befallen, ein Verhalten, das Nik Kevin Koch mit einer schmalbrüstigen Tenorstimme übersetzt.
Stefan Mayer lokalisiert das Geschehen in einer nicht genau definierbaren Zeit und einem Raum zwischen Imagination und Wirklichkeit. Für Ersteres stehen die Projektionen auf der Bühnenrückwand, die Meer, Felsklippen und Vollmond zeigen. Die Realität ist im ersten Akt durch die Metallkonstruktion eines Schiffes, im zweiten Akt durch die Dorfturnhalle angedeutet, wo Mary (Susanne Gritschneder) mit den auf ihre Männer wartenden Frauen ein Schattentheater aufführt. Elina Schnizler hat die Frauen in provinziell und altmodisch wirkende Kleider gesteckt, und auch die Matrosen stammen in ihren Regenjacken und Wollkappen nicht ganz aus der Welt von heute. Allgegenwärtig ist das Doppelgängermotiv, womit der Regisseur die Parallelen zwischen der realen und der imaginären Welt zeigen will, doch wirken die damit verbundenen Handlungen und Requisiten etwas aufgesetzt. Warum treffen die Matrosen bei der Ankunft im Dorf nicht ihre Liebchen, sondern ihre gleichgeschlechtlichen Doppelgänger?
Mit Modestas Pitrėnas, seit 2008 Chefdirigent der Nationaloper Riga, steht dem Sinfonieorchester St. Gallen ein junger Dirigent vor, der mit Wagner noch nicht viele Erfahrungen gemacht hat. Bei der Ouvertüre klingt das Blech im Vergleich zu den Streichern um einiges zu laut. Im Folgenden sind die leidenschaftlich-dramatischen Szenen beim Orchester meistens besser aufgehoben als die lyrischen. Bei den volkstümlichen Szenen lässt Modestas Pitrėnas die Matrosen richtig drauflos brüllen, und beim Fest des dritten Akts wackelt das rhythmische Gefüge zwischen Chor und Orchester arg. Stimmig hingegen der sanft ausklingende Schluss mit dem Erlösungsmotiv, wozu Senta sich mit verklärter Miene die Adern aufschneidet.