Die Macht des Gespensterhaften

Rolf App, St. Galler Tagblatt (21.10.2013)

Der fliegende Holländer, 19.10.2013, St. Gallen

Am Theater St. Gallen inszeniert Alexander Nerlich die Oper «Der fliegende Holländer» von Richard Wagner. Als Hauptdarsteller überzeugen Almas Svilpa und Anna Gabler, das Orchester ist famos in Form.

Der Applaus kommt rasch an diesem Samstagabend, das erste laute Bravo ebenfalls. Almas Svilpa hat gerade als Holländer mit mächtiger Stimme sein dunkles Geheimnis verraten. Anna Gabler schreit als sterbende Senta ihre letzten Worte mehr heraus, als dass sie singt. Das Orchester stimmt noch einmal mit aller Kraft das Motiv des fliegenden Holländers an – da kommt ihnen der Beifall entgegen. Auch die drei von Michael Vogel einstudierten Chöre – Theaterchor und Opernchor St.Gallen sowie der Theaterchor Winterthur – und, vor allem, das Sinfonieorchester St. Gallen unter Modestas Pitrėnas finden sich in diese Begeisterung eingeschlossen.

Das Zeug zum Strassenfeger

Man durfte nicht erwarten, dass Richard Wagner derart ankommen würde beim St. Galler Publikum. Obwohl gerade «Der fliegende Holländer» durchaus das Zeug zum Strassenfeger hat. Mit Melodien, die sich einprägen und quer durch die Oper ziehen. Mit einer Orchestrierung, die mit schwerem Blech und sanften Streichern des Meeres wie der Liebe Wellen hörbar macht. Mit zwei Hauptrollen, denen stimmlich alles abverlangt wird. Mit einer Handlung, die an Dramatik nichts zu wünschen übriglässt. Und die, gerade in dieser Inszenierung von Alexander Nerlich, stark im Irrationalen gräbt.

Denn die Geschichte vom ruhelos um den Globus irrenden holländischen Seemann, der nicht sterben darf – es sei denn, er findet eine Frau, deren Treue ihn erlösen könnte –, diese Geschichte vereint Schauerliches und Anrührend-Zartes auf kaum zu überbietende Weise. Der geniale Dramatiker Wagner hat das sofort gesehen.

Eine klassische Seefahrersage

Natürlich ist die Geschichte von gestern oder sogar von vorgestern. Es handelt sich um eine klassische Seefahrersage, weitererzählt von Seemann zu Seemann, mit Wurzeln vermutlich im Zeitalter der grossen Entdeckungen und aufgeschrieben in mehreren Fassungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ihre Protagonisten heissen Barent Fokke, Van der Dekken oder Van der Straaten. Und immer geht es um einen gottlos-verwegenen holländischen Kapitän, der sich mit dem Teufel verbündet, um das vom Sturm umtoste Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas zu umschiffen. Und der dafür einen Preis zu zahlen hat.

Wie eine Reliquie

Seemannsgarn, wird man jetzt sagen. Und doch: Es ist eine Geschichte von grosser Magie. In düstere und gleichwohl magische Bilder hat der Bühnenbildner Stefan Mayer sie am Theater St. Gallen gekleidet. In magisches Licht hat Andreas Enzler sie getaucht. Der Regisseur Alexander Nerlich zieht die Sage in einen zeitlosen Raum, der durchaus die Gegenwart mit ihrem entfesselten Kapitalismus sein mag – dem sich ein kleines Dorf an der norwegischen Küste nur mit Mühe gewachsen zeigt.

Es hängt in Nerlichs Szenerie kein Bild des mythischen Holländers an der Wand, in das Senta sich verliebt, weit bevor sie ihn trifft. Aber es taucht in einem gläsernen Kasten über ihr auf, wie eine religiöse Reliquie. Ein Mann aus einer andern Welt – dem Erik, Sentas Verehrer im Diesseits, nicht entfernt das Wasser reichen kann. Doch Sentas rätselhafte Sehnsucht nach diesem Anderen treibt einen Graben zwischen sie. Handelt sie in einem Wahn?

In der Mehrzweckhalle

Wie ein Gespenst bricht der Holländer in die behagliche Welt der Spinnerinnen ein, die sich, in dieser Inszenierung, in einer Mehrzweckhalle zum Schattenspiel finden. Gespensterhaft treffen im dritten Akt die Chöre als Doppelgänger aufeinander – und die Bühne dreht sich immerzu, transportiert Vertrautes und Befremdliches. Während Daland, Sentas Vater, den ihm vom Holländer geschenkten Reichtum zu sichern sucht. Was ihm zwar gelingen wird – aber nur um den Preis der Tochter.

Der dunkel-düstere Holländer

Manches bleibt rätselhaft in Nerlichs Inszenierung, manchmal auch driften Text und Szene auseinander. Trotzdem – oder gerade deswegen? – entwickelt sich ein starker Sog. Wagners suggestive Musik hat daran gewiss ihren Anteil, das Orchester bietet sie in allen Schattierungen dar, vom wütenden Sturm bis zum zarten Liebeslied. Und in dem Tempo, das dieses Drama braucht.

Almas Svilpa hat jene dunkel-düstere Stimme, die der Holländer braucht, um überzeugend zu sein. Und er hat – nicht unwichtig – den kräftigen Körper eines in Wind und Wasser gestählten Seemanns. Beinahe blind folgt Anna Gabler als Senta ihrem inneren Kompass, beinahe atemlos verfolgt man beim grossen Duett, wie beide über brüske Gesten zueinanderfinden.

Auch die Nebenrollen sind sehr geschickt besetzt. Erin Caves vermag als Erik das vergebliche Werben um Senta sehr glaubhaft zu verkörpern. Als er ihr seinen Traum erzählt, ist dies eine der grossen, magischen Szenen des Abends. Steven Humes gibt den Daland jovial-freundlich und ein wenig abgründig. Nik Kevin Koch schliesslich ist ganz der leichtlebig-sehnsüchtige Steuermann.

Gegen das Ende hin immer wichtiger werden die Chöre, die sich im dritten Akt in einen auch schauspielerisch eindrücklichen Verwandlungstaumel steigern. Sie machen diesen ersten «Holländer» nach mehr als vierzig Jahren zu einem runden Ganzen.