«La Traviata» für Fortgeschrittene

Marianne Mühlemann, Der Bund (19.11.2013)

La Traviata, 17.11.2013, Bern

Was bleibt, wenn man Giuseppe Verdis Oper des Festpomps und Violetta des Tods beraubt? Jetske Mijnssens eindrückliche Inszenierung am Stadttheater Bern beweist: Es bleibt das Wesentliche.

Auf der Bühne eine karge Zelle. Ist das wirklich der Auftakt zu Verdis «La Traviata», jener beklemmenden Geschichte um die schwindsüchtige Kurtisane Violetta Valéry in Paris, Mitte des 19. Jahrhunderts? Beginnt so das Ende der «vom Weg Abgekommenen», die endlich die richtige Liebe kennen lernen möchte, aber von ihrer Vergangenheit immer wieder eingeholt wird?

Die ätherischen Streicherklänge des Vorspiels stimmen. In dem von Treppen umbauten Guckkasten (Bühne: Katrin Bombe) sitzt eine Frau in weissen Strumpfhosen und einem fransigen Tutu in ausgebleichter Flamingofeder-Farbe (Kostüme: Katrin Wittig). E strano, seltsam, denkt man. Und nimmt den Eindruck der Hauptfigur vorweg, die ihren Vorahnungen auf das unglückliche Ende mit diesen gehauchten Worten Ausdruck verleihen wird. Violetta (Miriam Clark) wirkt wie eine Coppelia-Puppe. Ist die Bleiche etwa schon tot? An den hellen, fleckig verputzten Wänden hängen Fotos wie dunkle Heftpflaster auf verletzter Haut. Es sind Polaroid-Erinnerungen. Violetta wird gleich weitere Bilder schiessen, als ob sie sich ihrer eigenen Gegenwart dokumentarisch vergewissern müsste. Die Dirigentin Mirga Grazinyté-Tyla lässt die Celli die gespenstische Szenerie mit dunklen Klängen grundieren. Bleischwer kommt der Melodiefluss daher. Darauf schwimmt sogar das Elend. Auch Violetta wird in dieser Inszenierung immer auf der Bühne sichtbar bleiben. Als ob sie die Liebe, die echte Liebe, nicht verpassen möchte.

Maulwurf-Gäste

Eine Festgesellschaft dringt zu ihr herein: So stereotyp schwarz wie sie gekleidet ist, könnte sie auch zu einer Beerdigung aufkreuzen. Wie lästige Insekten oder Maulwürfe kriechen Männer aus Tür- und Fensterlöchern und belagern Violetta mit voyeuristischen Blicken. «Geniesst das Festessen», singt der Chor. Meint er die ausgestellte Frau? In diesem Ghetto gibt es weder Champagner für das Trinklied noch eine gedeckte Tafel. Nur Einsamkeit - und eine geschmacklose Skulptur aus weisslichem Kunststoff, die aussieht wie ein abgenagter Baum, der jetzt als Hutständer dient. Daran wird Violetta goldene Äpfel hängen - kein Weihnachtsbaumschmuck, es sind Symbole für vergebliche Hoffnungen; am Wurzelstrunk kringelt sich schon die goldene Schlange.

Das Publikum wirkt irritiert von so viel szenischer Um- und Neudeutung. Gut so. Jetske Mijnssen hat das minutiös einkalkuliert, als sie sich entschied, den Stoff aus den Klauen seiner dominanten Vor-Bilder (wie etwa Franco Zeffirellis Opernfilm) zu befreien. Überhaupt vom Staub der Tradition. Ihre kluge psychologische Lesart fragt nach dem Innenleben der Kameliendame. Für sie ist Violetta nicht krank an der Schwindsucht, sondern an der Gesellschaft und ihren Konventionen. Sterben heisst in diesem Kontext Befreiung von alten Mustern - und Neuanfang. Da fällt es einem wie Schuppen von den Augen, weshalb die Tragödie unter dem Titel «Gioia», Freude, daherkommt. Eine Freude ist es, wie Miriam Clark zum Schluss aus der Zelle durch das Publikum in die Freiheit schreitet. Gekonnt spielt die Regisseurin mit den Elementen der Oper. Bis hinein in die Chorszenen (Einstudierung: Zsolt Czetner): Die Stierkämpfer, die mit weissen Taschentüchern wedeln, sind parodistische Auflockerung und handfester Verweis auf die Tränen, die der Freude zum Trotz fliessen werden. Der Chor der Zigeunerinnen entert singend und Hand lesend die Galerien und das Parkett, so fallen «en passant» die letzten Barrieren - auch zwischen Bühne und Publikum.

Traumhaft präzis

Das Zentrum aber ist die Sopranistin Miriam Clark (Porträt «Kleiner Bund», 16. 11.). Obwohl sie in ihrem Outfit aussieht wie eine verhutzelte Ballerina und später eine entthronte ägyptische Prinzessin ist ihr Gesang stilsicher. Mit ihrer bis in die höchsten Koloraturen traumhaft präzisen und ausdrucksstarken Stimme transponiert Clark das innere Gefühlschaos punktgenau in intensive Melodik. Selbst im Knien und Liegen fliesst ihr Singen zwanglos, fast wie von selbst. Einen naiven Träumer gibt Alfredo (Adriano Graziani), ein Tenor trotz blauem Sport- oder Lageristenkittel mit Seelenwärme, Kraft in den Höhen, überhaupt viel Italianità. Etwas farblos wirkt Vater Giorgio (Aris Agiris). Obwohl er innig singt, glaubt man ihm den ohrfeigenden Patriarch ebenso wenig wie den Reumütigen. Claude Eichenberger glänzt in ihrer Doppelrolle als Gastgeberin Flora und Dienerin Annina.

Nur selten passt der Text nicht zur Szene, etwa wenn Violetta ihr Bildnis Alfredo als Abschiedsgeschenk anbietet oder Vater Germont sie wie eine Tochter umarmen will - und auf der Bühne nichts passiert. In diesem Psychogramm sind die Distanzen zwischen den Menschen weit, auch wenn sie nebeneinanderstehen, und Wörter leere Hülsen. Kommunikation bedeutet vorab Missverständnis. Im statischen ersten Teil der Oper schaut keiner den andern an, wenn er mit ihm redet. So singen sie gekonnt aneinander vorbei. Erst zum Schluss, bevor sie auseinandergehen, werden die Beziehungen verbindlich. Viel Wandel in wenig Zeit passiert auch im Orchester. Im ersten Akt heizt das BSO dem Spiel mit straffen zügigen Rhythmen und dicken Klangmassen ein. Im letzten Akt dann obsiegen flexiblere Tempi und leisere, berührende Töne. Eine «Traviata» für Fortgeschrittene, die begeistert und beweist: Wenn man Verdis Oper richtig besetzt und mutig entschlackt, bleibt das übrig, was wesentlich ist.