Oliver Meier, Mittelland-Zeitung (19.11.2013)
«La Traviata» im Berner Stadttheater punktet mit einer famosen Miriam Clark in der Hauptrolle. Doch die Inszenierung hinterlässt zwiespältige Eindrücke.
Violetta Valérie, verzweifelt, am Boden zerstört: So wäre es zu erwarten, im ersten Bild des zweiten Akts. Die Berner «Traviata» zeigt etwas anderes: Ruhig richtet sie sich auf, wie ein Phönix aus der Asche, blickt stolz ins Leere. Germont, der vermeintliche Sieger, verkriecht sich derweil in die Ecke, wo er langsam und elend zu Boden sinkt.
Es ist der Endpunkt einer Schlüsselszene, die in Bern grossartig gelingt, weil die innere Dramatik aus leisen Tönen schöpft. Es ist aber auch ein bezeichnender Moment für diese Inszenierung, die routinierte Sichtweisen unterläuft.
Violetta Valérie (Miriam Clark) ist hier keine Lebefrau zwischen Glanz und Elend, keine Edelprostituierte in der Pariser Halbwelt, dahingerafft von der Tuberkulose. Ja, es gibt überhaupt kein Paris in dieser Inszenierung, keine Partys, kein Landhaus-Liebesnest, kein Liebesschmachten, kein identifizierbares Zeitkolorit. Die «Stierkämpfer» im Finale des zweiten Akts wedeln bloss mit Taschentüchern, die «Zigeunerinnen» erscheinen als aufgebrezelte (Premieren-)Damen im Zuschauerraum. Und am Ende gibt es keine tote Violetta am Boden, die man beklagen könnte.
Protagonistin als Leerstelle
Die holländische Regisseurin Jetske Mijnssen macht die Protagonistin zur Leerstelle, setzt sie in einen bunkerähnlichen Raum, der zum Seelengefängnis wird. Zwei Stunden bleibt sie dort, als einsame Gestalt, bedroht von der Gesellschaft. Sie starrt ins Leere, bleibt auf sich bezogen, selbst wenn ihr Geliebter Alfredo (Adriano Graziani) mit ihr spricht. Das kommt nicht gut an. Als das Regieteam zuletzt auf der Bühne erscheint, schwillt der Applaus ab, und ein paar Buhs mischen sich darunter. Zu Recht?
Mijnssens Inszenierung ohne Pathos und Blendwerk ist schlüssig umgesetzt. Allerdings: Psychologisch bietet Mijnssens Zugriff kaum einen Mehrwert, der über das hinaus geht, was Verdi präzise in die Musik hineingelegt hat. Umso gewichtiger wirkt, was fehlt. Eine Hauptfigur, die nicht mit ihrer Umwelt interagiert, mag auf dem Papier Sinn machen. Auf der Bühne wirkt das Konzept unterkühlt.
Staunenswert indes, wie Miriam Clark mit dem Regiekorsett umgeht. Die deutsch-amerikanische Sopranistin mit Jahrgang 1980 macht zuverlässig Furore – in Bern zuletzt als Protagonistin in Beethovens «Fidelio» (2012). Nun zeichnet Clark das stille Drama Violettas nach, nuancenreich, ohne pathetischen Pomp. Ihr dramatischer Koloratursopran hat die volle Durchschlagskraft, doch Clarks bohrende Seelenbefragungen wirken dort am stärksten, wo sie dem Leisen Raum gibt und das Zerbrechliche zulässt – im Finalakt etwa, als alles stillzustehen scheint.
Überzeugende Frauen
Es ist ein Abend der grossen Frauenstimmen – auch Claude Eichenberger (als Flora/Annina) markiert Präsenz. Zwiespältig präsentieren sich die Männer: Der Zweimetermann Aris Argiris, eingeflogen für die Premiere, gibt einen stimmlichen starken, fast irritierend jungen Giorgio Germont, der mit sich selber hadert. Eher blass bleibt Adriano Graziani als Alfredo (in Trainerjacke). Das liegt am Regiekonzept, es liegt aber auch daran, dass der Tenor stimmlich zum Forcieren neigt und wenig Schmelz zeigt.
Einen grossen Abend hat dagegen Mirga Gražinyte-Tyla am Pult des Berner Symphonieorchesters. Die 27-jährige Litauerin verantwortet ihre erste Opernproduktion als Kapellmeisterin im Stadttheater. Und sie tut es mit einer Vitalität, einer Umsicht auch, die begeistert. Vor allem aber vermittelt sie eine eigene Sicht auf das Werk, die aufhorchen lässt.
Mirga Gražinyte-Tyla verleiht der Musik eine lyrische, dynamisch differenzierte Leichtigkeit. Zugleich spitzt sie gerne zu, wo es sich aufdrängt. Gražinyte-Tyla setzt entschieden auf langsame Tempi, ohne dass die Intensität darunter leiden würde. Schon die Ouvertüre wird so zur tastenden Trauermusik, in der sich die Einsamkeit Violettas spiegelt.
Am Ende gibt es keine tote Violetta, die man beklagen könnte.