Im Innenraum einer Einsamen

Svend Peternell, Berner Zeitung (20.11.2013)

La Traviata, 17.11.2013, Bern

Violetta als Einsame, die ihren Weg doch noch findet: Verdis «La Traviata» im Stadttheater ist ein Frauenpower-Werk mit einem spannenden Konzept, schönen Stimmen und musikalischer Überzeugungskraft.

Sie ist die grosse Einsame des Abends. Und sie, Violetta, die Hauptfigur in Giuseppe Verdis Oper «La Traviata» (1853), bewegt sich in einem traumschattierten Innenraum (Bühne: Katrin Bombe). Dieser ist zunächst für die Öffentlichkeit (der Halbwelt) und dann für die Beziehung (zum Geliebten Alfredo Germont und dann zu dessen strengen Vater Giorgio) mit Drehtüren durchlässig. Am Schluss aber gibts von aussen kein Durchkommen mehr. Zudem sind sämtliche Symbole wie der schwungvoll konstruierte Plastikapfelbaum der Erkenntnis mit der zerstörerischen Schlange im Paradies (die auch einen surrealen Touch haben) vernichtet. Die obere Deckenwand hat sich so weit gesenkt, dass sich die Assoziation mit dem Krankenzimmer aufdrängt, in dem die einstige Kurtisane von ihrer Schwindsucht dahingerafft wird. Nur ist das bei der holländischen Regisseurin Jetske Mijnssen ohnehin ganz anders aufgegleist. Hier haben wir es von Anfang an mit einer Art überdimensionierter Spielzeugpuppe im Röckchen (Kostüme: Katrin Wittig) zu tun, die von der Gesellschaft missbraucht wird. Durch die Liebe zu Alfredo verliert Violetta immerhin ihre steife, hochgetürmte Frisur und wird aus der ärgsten Apathie erlöst. Der dritte Akt (auf dem Sterbebett) findet für die Protagonistin als Wahntraum und Todesvision statt. Sie wischt sich die Schminke ab und verlässt zum ersten und einzigen Mal während der Aufführung den Innenraum Richtung Bühnenvor- und Zuschauerraum: Es wird ein Befreiungsgang zu ihr selbst angedeutet, der nicht zwingend etwas mit dem Tod zu tun haben muss.

Starkes Gesangstrio

Damit ist gesagt: Die neue «Traviata» im Stadttheater Bern bildet nach der partyrauschartigen Ausdeutung von Mariam Clément im Jahre 2007 einen konzeptionell ganz anderen und sehr spannenden Ansatz, sich der alleingelassenen und von der Gesellschaft verstossenen Hauptfigur neu zu nähern. Miriam Clark trägt diese Violetta mit äusserer Statik, darstellerisch beklemmend, mit wunderbar agilem und kräftigem Koloratursopran grossartig durch den Abend. Eine starke Nummer ist auch der Grieche Aris Argiris als Georgio mit weich-sonorem Bariton: eine autoritäre Figur mit schwer unterdrückbaren Gewaltansätzen, aber auch Läuterungszügen. Zweimetermann Adriano Graziani zeigt als Alfredo in schlichtem Outfit zwar Echtheit, aber auch restloses Zerstörungspotenzial: Die Regie sieht für Violetta keine Lösung durch ihn.

Frauenpower mit Akzenten

Den Frauenpower-Effekt (Regie, Bühne, Kostüme) verstärkt Mirga Gražinytė-Tyla am Dirigierpult als Vierte im Bunde: Als filigranes Seelenporträt angelegt, lässt sie der Ouvertüre enorm viel Luft und Zeit. Mit ihrem Energieschub-Potenzial variiert die Litauerin geschickt die Tempi. Sie haucht der Partitur mit präzisen, dynamischen Einsätzen Tiefe, Schattierungen, Feinfühligkeit und Vitalität ein. Und was das Berner Symphonieorchester am Premierenabend an Klang- und Rhythmusvielfalt hinkriegt, beeindruckt. Der Innenraum erhält musikalisch eine Seele. Das Publikum zeigt sich grossmehrheitlich begeistert.